Mariusmüllerismus - Kettcar im JZE, Essen, 30.03.2005

KettcarJede Band bekommt die Fans, die sie verdient. Marcus Wiebusch bemühte sich sehr subtil, den Leuten klarzumachen, dass er es scheiße findet, wenn jeder Song von der ersten bis zur letzten Zeile mitgesungen wird. Seine Vergangenheit erfordert, dass er es scheiße findet. Bei “Nacht“ bat er darum, nicht mitzusingen, wenn man sein Freund bleiben wolle. Reimer Bustorff beschwor die Gemeinde, keine Feuerzeuge anzuzünden. Und immerhin: Es blitzte zwar kurz einige Male auf, aber alles in allem blieb es schwarz. Und Reimer bedankte sich dafür. Ich wusste nicht, ob ich in diesem Augenblick lachen oder weinen sollte.

Manchmal kam es mir so vor, als wüssten es die Fünf da oben auch nicht. Was ist geschehen? Eine Band schreibt Lieder, Texte, die die Befindlichkeit einer Generation jenseits der – sagen wir mal - 30 perfekt treffen. Ohne Triefigkeit (na ja, von Ausnahmen wie „Balou“ und Kinderchören auf dem neuen Album vielleicht mal abgesehen) und trotzdem mit Tiefe und Klugheit.

Was soll ich davon halten, wenn clearasilte Abiturienten neben mir inbrünstig Zeilen mitsingen wie „vergiss Romeo und Julia, wann gibt’s Abendbrot, willst du wirklich tauschen, am Ende waren sie tot“? Muss ich mich dann fragen, was ich falsch gemacht habe, oder diese Sprösslinge?

Kettcar sind im Lande Populär angekommen und finden sich wohl selbst noch nicht zurecht. Das letzte Mal, dass ich Menschen so textgenau habe mitsingen hören, war bei Queen 1984 in der Dortmunder Westfalenhalle. Bald treten sie wieder dort auf, als alternde Wetten-dass-Rocker ohne ihren zum Glück (für ihn) frühzeitig verstorbenen Sänger. Auch Westernhagen macht jetzt wieder Platten. Dass der noch lebt.

KettcarKettcar riefen die Geister und sie kamen: Tagesthemen, FAZ, der Bankangestellte, meine Mama, Goethe, Marx, Gott, alle lieben Kettcar. Marcus Wiebusch macht Witze darüber. Das muss er wohl, weil er es selbst nicht begreift. Dass ihn plötzlich alle für einen virtuosen Alltagspoeten halten, der aus unserem Innenleben spricht. Das stimmt auch, nur: Was ist plötzlich passiert? Das war er schon früher. Man spürt schon, wie er es sagen will: Aber wir sind doch die Gleichen geblieben. Wir haben uns nicht verändert.

Das stimmt nicht. Das Seltsame ist, dass sie durch musikalische (und vermutlich auch sehr persönliche) Evolution vielleicht in die nächste Einbahnstraße geraten. Raus aus dem albernen Punk-Ghetto. Jetzt ist er da, der typische Kettcar-Stil, und alle werden auch auf der nächsten Platte erwarten, dass er wieder da ist. Wiebusch muss jetzt immer Texte schreiben, die so klingen wie „so lang die dicke Frau noch singt, ist die Oper nicht zu Ende“. Dazu gefälliger Pop. Denn alle wollen mitsingen. Alle wollen sich identifizieren. Etwas sein. Wie der Typ neben mir, der gefühlszerstörend „ich bin Wanne-Eickel“ mitgrölt. Nur wegen dieser Zeile war er gekommen. Jetzt ist er wieder glücklich und arbeitslos. Während Wiebusch sich fragt, wieso selbst bei einem gedämpften, intensiven Stück mitgeklatscht wird. Und dazu noch falsch. Er will doch nur seine Gefühle über Musik ausdrücken. Aber nicht jedes Gefühl kann man mitsingen. Fußballchöre kennen keine Zwischentöne.

Manchmal genießen sie es, wenn die Menschen sie anschreien. Dann lachen sie. Manchmal fragen sie sich, wohin das führen soll. Die Fünf da oben auf der Bühne: Sie kommen mir manchmal etwas verloren vor. Aber wir müssen kein Mitleid mit ihnen haben. Denn sie haben Erfolg. Und wir hoffen, dass sie das Geld sinnvoll für andere Musiker in ihrem Label einsetzen. Und irgendwie werden sie ja immer so aussehen wie wir. Scheiße. Dafür lieben wir sie.

Ob sie die Prüfung bestehen? Eines Tages werden die Fans vielleicht nur noch zum Feiern kommen. Nicht mehr zum Zuhören. Bitte, liebe Kettcars, vermariusmüllert nicht! Schaut gelegentlich in den Spiegel und in die Gesichter eurer Zuhörer und fragt euch: Sind das die Fans, die wir verdienen?

www.kettcar.net
www.ghvc.de (Label)
www.kkc-essen.de (Veranstalter des Konzertes)

P.S.
Übrigens: „Landungsbrücken raus“ ist immer noch boaaah