Aus dem elfengeprägten Über-Off: Sigur Ros im Palladium, Köln, 06.11.05

trolleEs war nicht leicht, den Gottesdienst zu erreichen. Wir waren zwar frühzeitig aufgebrochen, doch der erste Verkehrshinweis – Stau auf der A1, Umleitungsempfehlung über die A46 – brachte uns zunächst auf die falsche Spur. Als wir die Warnblinklichter aufleuchten sahen, erfuhren wir, warum: Totalsperrung auf der A46 wegen Unfall. Wir fassten uns an den Händen, machten uns Mut und sangen gemeinsam ein Hosianna auf die Aktualität der Verkehrsdurchsagen.
Immerhin hatten wir dadurch mehr Zeit, uns im Auto mit dem neuen Album „Takk“ auf das Konzert einzustimmen. Und waren uns einig: „Hoffentlich spielen sie mehr von den älteren Alben.“ Nicht, dass das neue Album von Sigur Ros schlecht wäre, aber es ist mit seinem leicht überproduzierten Pathos und dem deutlich zugänglicheren Songwriting eben doch ein gutes Stück mehr Major-Pop.

Wegen einer akuten Kartenleseschwäche des Kollegen N mussten wir zunächst noch einen Wohnungsbrand am Straßenrand passieren, bevor wir endlich das Palladium erreichten. Dort herrschte bereits ein walhallaartiges Andachtsambiente. Die zahlreich erschienenen Pilger beköstigten sich noch mit kargem Brot oder gönnten sich einen Schluck des reinheitsveredelten Quellwassers. Doch viele kifften sich bereits in messianische Erwartungshaltung.

Kein Wunder: Sigur Ros sind Island und gelten mittlerweile als so etwas wie die körperlich gewordene Esoterik. Eine Mischung aus Mutter-Natur-Verbundenheit, trollähnlicher Unergründnis, zwergenhafter Urigkeit bei gleichzeitig runenhafter Verkündung geheimnisvoller Botschaften aus dem elfengeprägten Über-Off. Tenor: Man kann es nicht begreifen, man muss es fühlen. Sigur Ros könnten ohne Probleme Werbung für Naturkosmetik aus unbehandelten Algenextrakten, Eiskartoffeln von isländischen Gletschern, Töpferkurse in der Cinque Terre, die Selbsterfahrungsgruppe Alien-Geschädigter, handgebütteltes Pergament, den Audi A8 und die Neuinterpretation nordischer Sagen durch den Mythenforscher Prof. Nachtigaller (Wissen ist Nacht) machen. Sinnsuche für Postmaterielle inbegriffen.

Dementsprechend präsentierte sich das Publikum und stellte einen Querschnitt durch die tiefenstrukturell geschädigte Seele unseres Volkes dar: in Hanf gekleidet Zwerge, Jutemädchen, Vokuhilas, Menschen mit Jeansjacken, auf denen Sticker von den „Hooters“ prangten (ich schwöre es), pseudointellektuelle Werbeagenturbürokraten, gottesferne Grufties, Mitglieder der jüngsten Union, bekiffte Jusos, spießige Yuppies (es gibt sie noch), gegelte Grüne, deutsch-american Psychos und ironieferne Möchtegernmusikjournalisten wie wir. Alles Menschen also, die Identitätsprobleme haben. Mithin: das ganze Volk.

Nun waren sie also zusammengekommen, um Orientierung im Leben zu finden. Doch es bedurfte einiger Geduld, denn zunächst betraten Anime die Bühne - auf dem neuen Album im Prinzip die Streichergruppe von Sigur Ros. Doch hier boten die vier elfenhaften Mädchengestalten alles auf, was der Naturspielzeugladen an der Ecke so hergab: Wassergläser, Säge, Glöckchen, Triangel u.v.m. Das hatte teilweise Kultcharakter wie beispielsweise das tonscharf austarierte Spiel mit den Druckklingeln zum dumpfen Beat, aber in seiner gesamten Anmutung leider manchmal auch einen gewissen Colonia-Dignidad-Charakter. Durch die isländische Herkunft der björkhaften Gebilde blieb das jedoch unverdächtig. Zumal das abschließende, elektroide Kindertechnostück mit den negativen Assoziationen versöhnte. Das Publikum begeisterte sich entsprechend.

Kein Wunder, denn das Zuziehen des weißen Vorhangs war eine Vorbotschaft auf das Erscheinen der Prediger. Und die fein erdachte Dramatik des Gottesdienstes nahm nun endlich ihren Lauf: „Takk“ - wie auf dem neuen Album - als Intro, die Band noch schemenhaft hinter weißem Vorhang. Dann das sanft stampfende "Glósóli", das sich bis zum brachialen Noise-Ausklang steigert – eine Art Vorwegnahme des gesamten abendlichen Stimmungsbogens. Der Vorhang öffnet sich zu den ersten Klängen von "Ný Batterí". Hier beginnen im Publikum die ersten Jünger zu schwanken. Zu halluzinogen erscheint ihnen offenbar das Klanguniversum der Isländer. Oder sollten da etwa bewusstseinserweiternde Stimulanzien eine Rolle spielen? Jedenfalls kippen vor uns zwei Jungs um, was meine Freundin dazu bewegt, ihrerseits Übelkeit zu verspüren. Die Offenbarung: Die Musik von Sigur Ros lässt einen also nicht unberührt.

Doch das meine ich ausnahmsweise einmal vollkommen ironiefrei. Die Isländer zelebrieren fast alle Songs ihres neuen Albums und verzichten dennoch nicht auf ältere Stücke. Permanent herrscht eine andachtsartige Stimmung im Saal. Der Sound ist sowohl in der Instrumentalisierung als auch der perfekten Beschallung der Halle famos vielschichtig und wirkt. In den Blicken der Zuhörer spiegelt sich die Tiefe der isländischen Seele und Popkultur. Die ikonenhaft minimalisierten, teils nur schemenhaft projizierten, polyvalenten Videos ergänzen das verführerische Gesamtwerk. Über allem schwebt die Stimme von Jon Thor Birgisson. Das normale Set schließt mit dem kompliziert vertakteten und eher ruhigen "Heysátan". Die Zugabe "Popplagid" jedoch steigert sich zum musikalischen und medialen Overkill auf wieder geschlossenem, weißen Projektionsvorhang. Dann ist Schluss. Die Band badet sich wie eine Schauspieltruppe nach erfolgreicher Premiere im Applaus. Zurecht. Alle Jünger haben ein Stück Identität errungen und fühlen sich kurzzeitig eins mit dem sigurrosschen Universum des Unbegreifbaren.

„Takk“ ist vermutlich das Mindeste was man beiderseits dazu sagen kann. Und mit diesem Schlusswort möchte ich auch all jene versöhnen, die beim Lesen dieses Artikels schon einen Kratzhals bekommen haben, weil sie geglaubt haben, ich wollte es verreißen. Nichts lag mir ferner…ihr Trolle und Elfen.

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