Mindless Self Indulgence: Sex und Kinderschokolade

JimmyWas mich extrem aus dem Konzept bringt, als ich den kleinen, ziemlich übel riechenden Raum im Backstagebereich der Philipshalle in Düsseldorf betrete, ist, dass die komplette Band vor mir sitzt. Das hat man nur selten heutzutage. Doch scheinbar suchen die Jungs und Mädels von Mindless Self Indulgence nicht nur die Nähe zu ihren Fans, sondern auch die zur Presse. Die Entschuldigungen von allen Seiten, die den Gestank mit der über den Boden verteilten schmutzigen Wäsche erklären, die sie einfach nicht gewaschen bekommen, passen so gar nicht zu dem Bild der durchgeknallten, kompromisslos offenen und teilweise beleidigenden Band, auf die ich mich mental eingegroovt hatte. Doch wie sagt man so schön: Don't judge a book by it's cover. Und im Bezug auf Little Jimmy Urine, Steve, Righ?, Kitty und Lyn Z könnte dieser Spruch nicht zutreffender sein. Auf einem Stuhl, der mich an meine Schulzeit erinnert, mitten im Raum platziert, während sich die Bandmitglieder entspannt auf Sofas und Sesseln um mich herum verteilt fläzen, fühle eher ich mich als vor in Tribunal der Inquisition gestellt. Doch wenig genervt über ein weiteres Interview an diesem Tag, stehen mir die vier gerne Rede und Antwort.

Fantastisch sei die laufende Tour, genau wie die andere Band, meint Little Jimmy. "Wie heißt die noch mal? Hab ich ganz vergessen," sagt er mit schelmischem Seitenblick auf Bassistin Lyn Z, die es ja wissen muss, hat sie doch am 3. September Gerard Way, den Sänger von My Chemical Romance, der Band, für die MSI als Opening Act unterwegs sind, geehelicht. Auf meine Gratulation und Frage nach dem Eheleben antwortet sie eher schüchtern zurückhaltend. Das Mädel genießt und schweigt. Wer könnte es ihr verdenken. Hier geht es ja auch nicht um Themen für die Bravo oder Young Miss, sondern essentielle Fragen zum Selbstverständnis der Band und Erfahrungen im Touralltag.

Das Touren mit MCR bringt die Band mit einem ganz anderen Publikum in Berührung, als sie es sonst gewohnt ist. „Wenn man seine eigene Tour macht, haben die Kids schon auf youtube recherchiert, was unser Publikum für gewöhnlich macht, und so kennen sie uns bereits. Bei den größeren Touren sind viele Leute, die uns noch nie gesehen und ausgecheckt haben. Aber meistens sind wir gerade von denen positiv überrascht", meint Gitarrist Steve und die anderen stimmen zu. Tatsächlich hatten sie es sich schlimmer vorgestellt, dass alle sie hassen würden zum Beispiel, aber das habe sich nicht bewahrheitet. Nur einige wenige reagieren nicht so positiv auf die Musik der New Yorker. Vielleicht, weil einige ihrer Texte doch mehr als politisch unkorrekt sind. Wenn sie Kinder hätten, würden sie ihnen erlauben, ihre Musik zu hören? „Wir würden sie dazu zwingen", meint Steve, der heute die Rolle des Wortführers anscheinend für sich gepachtet hat, vollkommen ernsthaft, „ich würde mir über unsere Musik oder die von anderen keine Sorgen machen. Außer, es ist wirklich anstößig wie ‚Miami Sound Machine'." Daraufhin entwickelt sich eine rege Debatte über Hip-Hop-Bands, die doch viel eher einen schlechten Einfluss auf Jungendliche hätten und auch noch im Radio liefen. Die Ergebnisse: Lyn Z würde nicht wollen, dass ihre Tochter zum Objekt degradiert wird, wie es viele Hip-Hopper im Allgemeinen mit Frauen tun und sie auch bestimmt nicht „Jellybutt" nennen, wie Little Jimmy vorschlägt. Drummerin  Kitty ist der Meinung, dass man mit seinen Kindern einfach über alles reden muss und wird lautstark von Herrn Euringer unterstützt, der  zu mehr Verantwortung auf Seiten der Eltern aufruft und Steve, Righ? (nein, das ist kein Tippfehler, so nennt er sich tatsächlich, inklusive des Kommas) könnte sich vorstellen, dass sie einen Warnhinweis für Eltern auf ihren CDs anbringen. „Sie wären irgendwie lustig, aber auch nicht wirklich und würden Eltern darauf hinweisen, dass, wenn sie nicht einschätzen können, was für ihre Kinder gut ist, sie uns nicht dafür verantwortlich machen sollten, eine solche CD heraus zu bringen." Aber eigentlich brauchen sie das gar nicht, da sie in den Staaten ohnehin immer „clean versions" ihrer Alben produzieren. Mir völlig unbekannt ist dies wohl ein gängiges Verfahren im „Land der unbegrenzten Möglichkeiten". Der Sänger klärt mich auf: „In den Staaten sterben die kleinen Plattengeschäfte langsam aus und so kauft man seine Alben in großen Ketten wie Walmart oder Target. Die haben ihre Regeln und wir richten uns danach. Also, wenn du zwölf bist und willst, dass deine Mutter dir eine CD kauft, warum sollte man da nicht die Chance haben, sie zu bekommen? Das Cover ist anders gestaltet und es gibt andere Versionen der Lieder." Alben mit „eindeutigen" Inhalten, wie es so schön heißt, werden einfach noch einmal ohne diese aufgenommen. Und für MSI haben sich da ganz neue Möglichkeiten aufgetan. „Wenn man ein Wort mit einem Geräusch wie (gibt einen undefinierbaren Ton von sich) ersetzt, ergibt das etwas total anderes. Wir denken uns jede Menge neuer Geräusche aus, wie Hip-Hop-Sounds...". „...oder solche kleinen Pop-Up-Sounds", unterbricht ihn Steve. „Tja, und dann ist es clean."

Das, was die Musik von Mindless Self Indulgence so besonders und faszinierend macht, ist definitiv die Bandbreite an verschiedenen musikalischen Genres, die man auf allen ihren Alben entdecken kann. Hip Hop, Punk, Elektro und Industrial gewürzt mit Atari-Sounds und schrägen stimmlichen Aktionen von Little Jimmy vermischen sich zu einem energiegeladenen Mix, der einfach mitreißt. Gerade deswegen bekommt die Kombo von den unterschiedlichsten Bands oder Solokünstlern Angebote, sie als Opening Act auf ihren Tourneen zu begleiten, was MSI den Titel als „most famous unfamous band" eingebracht hat. Denn, obwohl sie schon mit Größen wie Marilyn Manson, Korn, Rammstein, System of a Down oder jetzt My Chemical Romance unterwegs waren, sind sie selbst kaum als Headliner bekannt. „Weil wir immer machen, was wir wollen und keinen Konventionen folgen, sind wir so etwas wie eine Bands-Band geworden. Auch, weil wir jeden Abend etwas anderes machen. Die meisten Bands gehen ja nur raus und sagen ‚put your hands together' und dann schauen sie oder Crewmitglieder sich uns an und sagen ‚hey, das ist lustig'."

Auch das sich derzeit in der Pipeline befindende neue Album, mit dem wir nächstes Jahr rechnen  können, bietet den altbekannten Variantenreichtum und noch mehr. „Wir verändern uns immer ein wenig. Es wird also keinen radikalen Umschwung geben, sondern sich nur leicht verändern, alte Elemente behalten und neue hinzufügen. Ich tue mein Bestes", stellt der Sänger und Songwriter fest und in Aussicht. Es soll ein großes Rockalbum werden, setzt Steve hinzu und Kitty meint, dass sich ja jede Band weiter entwickeln will. Warum sollte MSI da eine Ausnahme sein? „Wenn wir dasselbe beschissene Ding machen würden wie immer, wär' es so wie uns alle kennen. Aber ich will immer neuen Scheiß mit reinbringen." Doch, was für ein „neuer Scheiß" das ist, wird nicht verraten. „Manchmal ist es Schokolade", meint Jimmy dann noch. Das anschließende Gelächter seiner Bandkollegen deutet an, dass es sich hier um einen, für Außenstehende nicht nachzuvollziehenden, Insiderwitz handeln muss.

Was mir das Stichwort für die nächste Frage liefert: „Ihr Typen liebt es doch, anderen auf den Sack zu gehen, oder?" Damit handele ich mir direkt einen kräftigen Tritt von Mr. Euringer und den entsetzten Ausruf „wie kommst du denn da drauf?" ein. Der Tritt  galt zum Glück nicht mir, sondern meinem Stuhl, trotzdem bestätigt diese Aktion bereits meine dreiste Behauptung und der verbale Zusatz des Sängers „na ja, wenn es uns überkommt" untermauert diese These noch zusätzlich. Meine Frage bezog sich übrigens auf sein einst in einem Interview abgegebenes Statement, er würde die Zeit vermissen, als Leute noch mit Flaschen nach ihnen geworfen haben. Das relativiert der zweite Mann in der Runde recht schnell: „Das ist nicht ganz richtig. Ich glaube nicht, dass wir das vermissen." Es sei eher so, dass sie es genossen, mit einigen Sachen davon zu kommen, meint Kitty. Die Aussage beziehe sich eher auf die gute alte Zeit, in der sie noch neu waren, es sei also eher nostalgisch gemeint. Aber sadomasochistisch seien sie noch immer. Als Beweis zeigt mir der Gitarrist seinen „dritten" Ellenbogen, einen fast Hühnerei großen Auswuchs an seinem Arm, den er sich in einer „großartigen Nacht" zugezogen hat. „Wir zeigen unsere Narben", meint er stolz. Aber gehasst werden wollen sie nicht mehr. Nur eine Reaktion auf ihre Musik bekommen. Sei es nun Liebe oder Hass. „Aber eigentlich lieben wir es, geliebt zu werden", säuselt Jimmy mit treuem Dackelblick.

Den braucht er bei seinen Fans nicht anzuwenden, um sich beliebt zu machen. Das schaffen er und der Rest der Band allein dadurch, dass sie immer die Nähe zu ihren Unterstützern suchen. Nach ihren Shows verbringen sie oft Stunden damit, Fans persönlich zu begrüßen, sich mit ihnen fotografieren zu lassen und Autogramme zu geben. Doch wie wird es aussehen, wenn sie bekannter werden, mehr Platten verkaufen und größere Hallen spielen? Können sie diese Nähe dann immer noch aufrechterhalten? „In der einen oder anderen Art bestimmt. Wenn wir Probleme mit der Sicherheit bekämen, würden wir einfach einen geordneten Rahmen schaffen und so immer noch Fans treffen können." Little Jimmy stimmt Steve zu, meint aber, dass es bereits bei dieser Tour etwas heftiger zur Sache geht.

Lyn ZHeftig kann ja auch eine „sinnlose Genusssucht" - wie der Bandname ungefähr ins Deutsche übertragen heißt - sein. Welches Laster haben denn Kitty, Lyn Z, Steve und Jimmy? Die Drummerin und der Sänger sind sich einig: „Sex!" Bassistin Lyn Z ist da etwas zurückhaltender und entscheidet sich für Zigaretten. Steve schweigt. Jimmy fügt noch Schokolade hinzu, worauf wieder dieses bedeutungsschwangere Gelächter der gesamten Truppe zu vernehmen ist. Auf meinen fragenden Blick bekomme ich nur den Hinweis, mir unbedingt heute Abend das Konzert anzuschauen. Und da klärt sich das Mysterium: Herr Euringer holt plötzlich eine überdimensionale Packung Kinderschokolade hervor und behauptet, das „Kinder-Kind" zu sein. Das stark zweifelnde, jedoch sichtlich belustigte Publikum kommt dann in den Genuss leckerer Kinderriegel. So macht man sich neue Freunde. Und Flaschen flogen denn auch keine an diesem Abend.

All diese Verspieltheit führt mich zu meiner letzten (ernst gemeinten) Frage, nämlich, ob der Künstlername „Little Jimmy Urine" darauf schließen lasse, dass James Euringer tief in sich drinnen einen kleinen Peter Pan verbirgt, einen Jungen, der niemals erwachsen werden will. Ein Raunen geht durch den Raum, darauf folgt eine kurze Stille, bevor der Meister spricht: „Nun ja, ich sehe gut aus, heute Abend, was soll ich sagen? Nein, also der Name setzt sich folgendermaßen zusammen: mein Nachname ist Euringer, richtig? Also ist der „Urine"-Teil ganz offensichtlich. Komischerweise hat mich niemals jemand damit gehänselt. Meine Mutter war die einzige, die mich „Jimmy" genannt hat, also wollte ich das nehmen. Und in unserer Crew gibt es noch einen anderen James und alle waren immer durcheinander, deswegen haben sie mich „little" genannt."

Und um zu beweisen, dass Little Jimmy Urine ein verbrieftes Recht darauf hat, diesen Namen zu tragen, habe ich zum Abschluss noch den ultimativen "Urin-Test" mit ihm gemacht. Sollte er weniger als die Hälfte der Fragen falsch oder gar nicht beantworten, müsse er sich einen neuen Künstlernamen suchen. So seien die Konditionen.

Woher kommt der Name "Urin" und was bedeutet er?(Antwort: aus dem Lateinischen/ Wasser)

LJ: Also, ich hab keine Ahnung. Es kommt hier raus (deutet an beschriebene Stelle) und bedeutet „hau ab, bevor ich dich töte".

Wie viel Urin produziert ein gesunder Erwachsener jeden Tag? (Antwort: 1 - 1,5 l)

LJ: Ich würde sagen, einen Gallon?

Falsch,  1 - 1,5 Liter.

LJ: Was ist das umgerechnet?

Ungefähr ein Viertel Gallon.

LJ: Also, gestern Abend habe ich einen Gallon produziert.

Ja, aber bist du ein gesunder Erwachsener?

Alle: Nein!

Was ist der pH-Wert? (Antwort: 4,6 - 7,5)

LJ: Das weiß ich: 12. (Der Sänger lag falsch, aber Steve wusste es tatsächlich)

Was ist seine Dichte? (Antwort: 1015 - 1025 g/l)

LJ: Hey, es gab einen Grund, warum ich die Schule geschmissen hab!!!!

Wofür wurde oder wird es benutzt? (Antwort: zur Säuberung, zum Bleichen, es wird getrunken, um z. B. Asthma Neurodermitis oder Cellulitis zu heilen)

LJ: Zum Reinigen, und man trinkt es aus therapeutischen Gründen, um den Körper durchzuspülen. (Dabei helfen ihm allerdings die anderen)

Na ja, du hast zwei von fünf.

LJ: Also darf ich das "Little" behalten.

Sorry, aber du darfst nichts von deinem Namen behalten. Du musst dir einen neuen suchen.

Jetzt entspinnt sich eine fieberhafte Diskussion.

LJ: Was ist mein neuer Name?

LZ: Chickendance.

LJ: Chickendance? Scarecrow.

Der soll's sein?

LZ: Nein!

LJ: Na, dann denk du dir doch einen aus. Was bin ich, komm schon?

Stille.

S: Chief Running Man? Noch einer von diesen Pop-Tänzern aus den 80ern. Bop-Bop?

Dieser Vorschlag findet schließlich bei allen Beteiligten Zustimmung. Ich danke der Band für das lange und sehr interessante Interview und natürlich auch Bop-Bop, the artist formerly known as "Little Jimmy Urine".

www.mindlessselfindunlgence.com  

www.myspace.com/mindlessselfindulgence