Mário Lúcio: "Weltmusik ist keine Musikform, sondern ein Geisteszustand."

mariolucio1World music ist derzeit in aller Munde. Hörer sind begeistert, Musiker hoffen auf den Durchbruch und die Label schachern um Anteile. Zeit, das Phänomen zu ergründen. Deshalb sprachen wir mit Mário Lúcio, Musiker von den Kapverden, der in diesem Bereich ordentlich mitmischt und im Januar sein neues Album veröffentlicht und in Deutschland tourt. Was als harmlose Konversation über kapverdische Musik begann, endete in philosophischen Betrachtungen über den Zustand der Welt und die Verbindungen zwischen Sklavenhandel, Polka, Bach und Weltmusik.

Hi, Mario. Ich las, in deiner Heimat, den Kapverden, scheint jeden Tag die Sonne. Nun gehst du im Januar auf Deutschlandtour. Hältst du es nicht für etwas bekloppt, im Januar in Deutschland zu touren? Weißt du eigentlich, was du tust oder wurdest du von deinem Management dazu gezwungen?
Gute Frage, die mich schmunzeln lässt. Doch glücklicherweise kann mich heute niemand mehr zwingen, etwas zu tun, was nicht gut für Andere oder mich ist. Ich präsentiere anderen Menschen meine Musik und mein Land, und das kann die Menschen glücklich machen. Meinen inneren und äußeren Sonnenschein kann ich überall hin mitbringen. Es ist überhaupt keine Qual, den Menschen in der Welt Freude zu bringen: Für diesen Zweck würde ich auch barfuß im Januar den Himalaya durchqueren.
 

Dein demnächst erscheinendes Album Badyo ist dein zweites Soloprojekt. Bedeutet dies das endgültige Aus deiner früheren Band Simentera?
Ich verließ Simentera, bevor ich begann, Soloalben aufzunehmen. Bei einem Treffen mit allen Freunden in der Band bat ich sie, mich gehen zu lassen, denn ich hatte andere Vorstellungen über die Arbeit mit kapverdischer Musik. Ich dachte, ich habe abgeschlossen, was ich für Simentera hielt. Und wollte nicht nur spielen, touren und Geld verdienen. Ich entwickelte eine Idee, ein Projekt mit kapverdischer Musik, meinen Gedichten, meinen Gefühlen, meinen Traditionen. Alle Bandmitglieder hatten Verständnis für meine Option. Allerdings bat ich sie, die Band weiter zu führen. Doch sie hörten auf. Ich kann nicht ignorieren, dass sie mich möglicherweise brauchen. Aber man kann nicht Geisel seiner eigenen Schöpfung werden. In einigen Jahren werden wir wieder beginnen können, gemeinsam aufzutreten.
 

Auf Badyo arbeitest du mit vielerlei Einflüssen. Mal klingt es brasilianisch, mal afrikanisch, dann benutzt du jazzige Einflüsse, man hört sogar Country raus. Ist dieses Mixen das Wesen kapverdischer Musik?
Ja. Wenn du das Booklet liest, wirst du feststellen, dass Badio die ersten freien Menschen der Kapverden bezeichnet. Bis dahin, bis 1460 war das Archipel unbewohnt. Diese Menschen verschiedener afrikanischer Ethnien sind ein Teil unserer Vorfahren. Sie verließen Santiago [Anm. d. Red.: eine der kapverdischen Inseln] Richtung Brasilien, Kuba, Kolumbien, Santo Domingo, New Orleans, Louisiana und Europa. Sie nahmen Rhythmen, Songs und Instrumente von den Inseln mit, und ich sage ausdrücklich von den Inseln, nicht vom afrikanischen Kontinent, denn sie kreierten eine neue Musik als Resultat der Völkermischung aus Bantus, Mandingos und Anderen. Um ehrlich zu sein, ist einer der Hauptgründe, warum ich diese Forschungen, auf denen mein Album basiert, überhaupt unternommen habe, die Welt über unsere Musik aufzuklären. Denn viele Male haben europäische Musikjournalisten bereits geschrieben, dass wir von Brasilien und Kuba, von Jazz und Blues beeinflusst sind. Das ist ganz normal, denn niemand zeigte ihnen bisher das gesamte Universum unserer Musik. Eigentlich ist es aber genau umgekehrt. Die kapverdische Musik beeinflusste Samba, Blues, Jazz und so weiter. Doch da wir ein kleines, unbedeutendes Land sind, brauchen die Leute andere Bezugspunkte, um uns zu verstehen. Was ich versuche zu zeigen, ist, dass du diese Bezüge nicht verstehen kannst, wenn du die Reise der Badios nicht kennst, ihre Kultur und ihre Spuren rund um die Welt. Ich arbeite nicht mit vielerlei Einflüssen, sondern nur mit meinen mannigfaltigen Wurzeln. Wir sind die Ursprünge der heutigen Mestizen, wir erklären die Musik entlang der atlantischen Sklavenhandelsrouten. Alles begann auf den Kapverden im 15. Jh. Sicher müssen wir noch die afrikanischen Wurzeln nennen sowie das europäische Erbe aus Walzer, Polka, Mazurka und Märschen, die auch Bestandteil dieser Mischung sind. Die Welt kennt nur eine Seite der kapverdischen Musik.
 

Verlangst du da nicht ein bisschen viel von deinen Zuhörern, mit dieser gewaltigen Mischung? Was denkst du überhaupt, wer dein Publikum ist?
Ich denke, mein Publikum sind Leute with open mind, soul, spirit and horizon. Menschen, die die Welt als besseres, gegenseitiges Verstehen begreifen, als größeres Verständnis zwischen den Kulturen, Völkern und für Differenzen. Die Menschheit ist eine Mischung, deshalb sind wir verschieden und auch eins. Wenn unser Hauptziel ist, uns einzufügen, dann können wir Diskriminierung eliminieren. Ich will sagen, dass ich die Welt in meiner Musik fühle, in mir, und mich und meine Musik in der Welt wiederfinde. Ich meine, neben unseren Genen, durch die wir uns gleichen, ist die einzige Sache, die uns einig fühlen lässt, unsere Mischung. Das einzig Reine im Universum ist das Gemisch. Jeder weiß das. Ich bin nur eine Stimme. Ich glaube nicht, dass ich zuviel verlange, ich möchte nur, dass jeder einzelne meiner Hörer sich mit einem Song identifiziert, der ihm nahe steht, und Andere nicht daran hindert, das Gleiche zu tun, selbst wenn der Andere sich mit einem Song identifiziert, den der Nachbar nicht mag. Ich rechne damit, dass wir etwa 20 Songs live spielen werden. Sind wir so unterschiedlich?
 

mariolucio2Hmmm...da denke ich mal drüber nach. Apropos Unklarheiten: Es scheint, jeder redet über Weltmusik, doch niemand weiß genau, was das eigentlich ist. Hast du eine smarte Definition für uns?
Weltmusik ist die Musik, von der du glaubst, sie existiert nicht.
 

Aha. Seit wann bist du in diesem Geschäft, im music business?
Ich bin es nie gewesen.


Verstehe. Ist es trotzdem einfacher für dich, deinen Lebensunterhalt mit deiner Musik zu bestreiten, nun da Weltmusik völlig hip ist, und Kenner diesem Genre eine große Zukunft voraussagen? Wie sehen deine Zukunftspläne, deine Wünsche hinsichtlich deiner Musik aus?
Allem mit großer Vergangenheit kann eine große Zukunft vorausgesagt werden. Das, was wir Weltmusik nennen, kann zeitlose Musik sein, Musik, die andere Musik berührt, eine Musik, die ein Teil unseres weltweiten, kulturellen Erbes ist. Eine Musik, die uns stolz macht, weil unsere Vorväter gemeinsam Hand anlegten. Eine Musik, die so weit weg ist und gleichzeitig so nah. Musik, die - egal wo - mit Aufrichtigkeit, Passion und Talent gespielt wird, egal ob von Bach, Dvorak, Salif Keita, von Nusrat Ali Khan, B.Leza, Pink Floyd oder Chabuca Grande. Das bedeutet, Weltmusik ist heute keine Musikform, sondern ein Geisteszustand, es ist eine Möglichkeit, die Einstellung von Menschen kennen zu lernen, die sich diesen Planeten mit all seinen Reichtümern teilen wollen. Ich denke, Menschen aller Länder und Nationalitäten träumen von einer solchen Zukunft oder mehr möglichem Überfluss. Derzeit ist es einfacher für mich als früher, meinen Lebensunterhalt mit meiner Musik zu bestreiten, weil Europa dafür offen ist. Aber gleichzeitig ist es schwieriger, da der Wettbewerb größer ist. Mein Plan ist es, die Ideen und Thesen, die hinter meiner CD stecken, zu verbreiten. Deshalb möchte ich in Universitäten spielen, in Schulen lesen, und über Creole erzählen, über Mestizo, über gute Dinge, die aus schlechten erwuchsen und die Meinungen Anderer zu diesem Thema hören. Mein Wunsch: Ich möchte überall viel spielen und Menschen durch diese Botschaft zusammen bringen.

www.mariolucio.com

Die deutschen Tourdaten findet ihr bei
www.malagueta-music.com