Porcupine Tree – Arriving Somewhere (DVD – Snappermusic)

Kreise mit MännernSie ist eine der ewigen Mythen der Popkultur - die Legende von jenen Bands, die zu Beginn ihrer Laufbahn gar nicht existierten. Jenen Bands, die als Erfindung, als Saga in den Strudel der Rock- und Popgeschichte hineingeschrieben wurden, um den Menschen die Ruhmesmechanismen der Populärkultur zu offenbaren und sie gleichzeitig damit zu verführen. Geschichten von angeblichen Underground-Stars, die plötzlich wieder auftauchen, um erneut die Musikgeschichte zu revolutionieren. Eine dieser Geschichten schrieb Steve Wilson mit Porcupine Tree. Und die jetzt vorliegende DVD ist der vorläufige Höhepunkt dieser längst wahr gewordenen Geschichte.

Gitarrist Steve Wilson ist kein Unbekannter und hat mit seiner Formation No-Man bereits einiges an Aufsehen erregt in der britischen Szene. Da kommt er auf die Idee, eine fiktive Band aus der Taufe zu heben - die angeblich aus den 70ern stammende Progrock-Band Porcupine Tree (Stachelschweinbaum). Er, Jahrgang 1967, entwirft eine frei erfundene Diskografie inklusive Biografie und bastelt sich aus seinem eigenen unerschöpflich kreativen Kosmos auf Kassette Stücke zusammen, nennt das Ganze "Tarquin's Seaweed Farm" und behauptet, es wären längst verschollene Aufnahmen jener 'legendären Band'. Das Ganze passiert 1987. Irgendwann gelangt dieses Tape in die Hände von Richard Allen, Herausgeber des Fanzines „Freakbeat" und Gründer des Labels Delerium. Der Ausschuss aus Wilsons Werk ist noch immer so gut, dass Allen ihn bittet, das Stück "Linton Samuel Dawson" für eine Psychedelic Rock-Compilation ("A Psychedelic Psauna") beizusteuern. Die Compilation erscheint 1991.

Für Wilson das Signal, die Legende weiter zu stricken. Er nimmt eine zweite Kassette auf, "The Nostalgia Factory". Die ersten werden hellhörig. Die Musik macht die Runde in Underground-Kreisen. Schließlich veröffentlicht Delerium beide Tapes als Debüt: "On The Sunday Of Life" (1992). Kennzeichen: Psychedelisch angehauchte Endlosstücke, die zwischen Ambient und Rock pendeln. Die erste 1.000er-Auflage ist bald vergriffen. Es folgt eine EP mit dem halbstündigen Track "Voyage 34". Das nächste Album "Up The Downstairs" integriert bereits elektronischere Beats und Loops. Das einst fiktive Projekt verlässt seine ironische Ebene und wird zur Band, denn jetzt will Wilson auch live spielen. Zusammen mit Colin Edwin (Bass), Chris Maitland (Schlagzeug) und Richard Barbieri (Keyboard) spielt er die ersten Konzerte. Mit Kultcharakter, weil Wilson es schafft, die Atmosphäre und Perfektion der Kompositionen auch live zu rüberzubringen.

Mittlerweile zieht Steve Wilson mit seinem einstigen Fake-Projekt Porcupine Tree bereits seit mehr als einem Jahrzehnt durch die reale Welt und hat sich mit elf weiteren Alben eine treue Fangemeinde erspielt. Die Songs wurden zwar etwas kürzer, der Sound druckvoller, besonders auf den letzten beiden Alben, doch letzten Endes scheint Wilson noch immer auf der Suche nach dem 6- bis 12-Minuten-Song, der seinen Ansprüchen an das ultimative Art- und Prog-Rock-Stück genügt. So produzierte er gleichermaßen psychedelische Meisterwerke wie Radioactive Toy, knüppelnde Prog-Kracher wie Open Car oder schlicht-schöne Popsongs wie Lazarus.

rote StachelschweinbäumeDabei ist Wilson sich in all den Jahren selbst treu geblieben - trotz eines intellektuellen Anspruchs und progressiver Denke - und keinen Moden und Strömungen allzu intensiv hinterher gehechelt. Das lässt seine Musik in schlechten Momenten zwar etwas selbstgefällig um sich selbst kreisen - wie der gute alte Hardrock aus den 70ern, in guten entfaltet sie jedoch eine unglaubliche Faszination zwischen künstlerischer Attitüde, ambienthaften Sequenzen und purem rockistischen Erlösungsdrang. Daraus entstehen dann eben jene epischen Werke, die den Zuhörer immer zwischen ästhetischen und verwinkelten Melodien und teilweise knackigen Riffs hin und her werfen. Das wirkt ungeheuer perfektionistisch und opernhaft durchkomponiert - nichts bleibt dem Zufall überlassen, auch live nicht.

Davon kann man sich jetzt selbst dann überzeugen, wenn man es nicht geschafft hat, ein Konzert der Band zu besuchen. Mit „Arriving Somewhere" legt Steve Wilson seine Debut-DVD vor und folgt damit erstmals einem aktuellen Trend. Er hat jedoch gut daran getan. Für die größten Fans ist das Kompendium ein Zeitdokument, das Wilson auf der Höhe seines perfektionistischen Anspruchs zeigt (Dolby Digital 5.1). Für Stachelschweinbaum-Einsteiger ist es der optimale Teaser, um nach mehr zu gieren.

Aufgenommen wurde das Konzert am 11./12. Oktober in Park West, Chicago. Es überwiegen zwar eindeutig die jüngeren Stücke, doch die Aufnahme führt auf verschlungenen Wegene durch den reichhaltigen Klanggarten der Porcupine Trees - von Open Car, über Lazarus, Hatesong, Mother and child divided, Arriving somewhere but not here (absoluter Höhepunkt!), Halo bis zu Trains, um nur einige zu nennen.

Bei Trains reißt Wilson eine Gitarrenseite, was zu bemerkenswerten Erkenntnissen führt: Wilson kann doch mehr als nur ein paar Worte sprechen. Er ist arschcool. Und: Auch ihm passieren mal solche Dinge. Ansonsten könnte man nämlich den Eindruck gewinnen, dass hier - zumindest musikalisch - die perfekte Band zusammen spielt.

Porcupine Tree sind keine Performer, keine Rampensäue, sondern Musiker mit Anspruch auf jenseitiger Qualität. Leider muss man sagen, dass die schnellen Schnitte der Aufnahme diesen Anspruch schlicht konterkarieren. Manchmal nervt es geradezu, dass einem ständig Perspektivwechsel aufgezwungen werden, wenn man lieber gerade mal sehen will, mit welcher Lässigkeit Wilson auf seiner Gitarre unverschämt verhexendes Zeug spielt. Liebe Regie: Schaut euch mal den Rockpalast an, um zu sehen, wie so etwas gemacht wird.

Als Bonus gibt es nämlich noch zwei Songs aus dem Rockpalast-Konzert - Futile und Radioactive toy - sowie das Video zu Lazarus. Zudem eine leider nichtssagende Fotogalerie, Gavin Harrisons Cymbal Song und die teilweise etwas schnipseligen, psychedelischen Visuals aus dem Konzert, aus denen The start of something beautiful jedoch mit einem phantasievollen Animationsfilm herausragt.

Trotz dieser Schwächen: Zeit irgendwo anzukommen... Arriving Somewhere. Kaufen.

www.porcupinetree.com
www.snappermusic.com/