Fräulein Nina: „Heimat ist etwas, was ich überprüfen kann, worüber ich nachdenken kann.“

Frl. Nina und das ResopalAn dieser Stelle möchte ich den geneigten Leser mit einer Dame bekannt machen, die es sich mit ihrer Band zur Aufgabe gemacht hat, die Menschheit an die GUTE ALTE ZEIT zu erinnern. Oder den Jüngeren unter uns zumindest zu zeigen, was sich unsere Eltern unter der GUTEN ALTEN ZEIT vorstellen, musikalisch, versteht sich. Und wie das so ist, wenn man zur richtigen Zeit am richtigen Ort sitzt, kann man auch mal ein Gespräch führen, das unserem Namen alle Ehre macht. Wer also keine Angst vor Kitsch, Lokalkolorit und existenziellen Fragen hat, sollte Fräulein Nina unbedingt kennen lernen. Zunächst aber sollte er Fräulein Nina hören...

Zur Einstimmung beschwingen euch Fräulein Nina und das Resopal mit
"Hey Du da, Santa Monica" :
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Fragen aus der Personalabteilung

Erst mal indiskret! Wie alt bist Du und wo bist Du geboren und aufgewachsen?

29, Dortmund, Dortmund-Süd. In einem kleinem piefigen Vorort, der da heißt Persebeck.

Beschreibe bitte kurz die Musik Eurer Band „Fräulein Nina und Ihr Resopal" und die wie es dazu kam.

Wir machen Grubenschmalz, d.h. Musik aus den 50'er Jahren, auch Musik in der Manier dieser Jahre, das ist ein Unterschied. Wir haben jetzt auch angefangen eigene Songs und Texte in der Art zu schreiben. Und wir sind eine Ruhrgebietsband, da viele von uns einen Einwandererhintergrund aus Italien und Ungarn haben. Grubenschmalz weil wir den Leuten ein bisschen Wohlfühlen zurück geben. Der Grubenarbeiter hatte ja früher nicht so oft Gelegenheit dazu. Der saß da unter Tage und hat von der Welt gar nichts mitgekriegt. Das einzige was der hatte, war dann die halbe Stunde vor dem Radio und das ist die Musik, die wir machen.

Für die Spätgeborenen: Was ist Resopal und wie heißen die fleischgewordenen Resopale?

Resopal ist ein Beschichtungsmaterial von Möbeln und Einrichtungsgegenständen aus den 50´er Jahren. Die Marke hat 100-jähriges Jubiläum. Das war das Gute in den 50´ern, z.B. Gelsenkirchener Barock war meist aus Resopal. Das sind Spanplatten, die durch Erhitzung mit Wachs zusammengepappt werden, dadurch ergibt sich eine glänzende Oberfläche. Kennt man von Omma´ s Küchentisch.
Zur Band: Am Schlagzeug sitzt Michael Resopal (Schank). Der Gitarrist ist Peter Resopal (Dissel), Ralf Resopal (Stemmer) spielt sehr viele Instrumente, lernte aber passender Weise zu dieser Zeit Kontrabass. Wir sind uns als Suchende in einer Künstlergruppe begegnet, ohne zu wissen, das wir mal zusammen Musik machen würden.

Wieso die musikalische Vorliebe für alte Schinken?

Das kommt daher, dass ich diese Musik seit dem ich 13 Jahre alt bin höre. Ich habe schon immer viel gesungen und auch Klavierunterricht gehabt. Irgendwann hörte das auf und ich habe brav die Schule zu Ende gemacht und studiert und war auf Anpassung Richtung konventioneller Beruf, wollte an der Uni anfangen, so was halt - arbeiten.  Dann hatte ich meine erste halbe Stelle im öffentlichen Dienst, da brach das wieder so durch. Ohne genau zu wissen, was ich machen wollte suchte ich Kontakt zu Künstlern und war dann bald in einer Gruppe aus Malern und Musikern. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt ein bisschen Kabarett gemacht und wollte das ausarbeiten. Dass ich singen kann, hatte ich bis dahin eigentlich keinem gezeigt, aber einer aus der Gruppe hat mich dann dabei erwischt. Gleichzeitig entstand ein Kontakt zu Veranstaltern des Dortmunder Hafenamtes zum Thema Kultur, die eine Sängerin für einen italienischen Themenabend suchten. Da sie mich beim Singen einer italienischen Schnulze erwischt hatten, passte das zum Thema der Veranstaltung. Da hatte ich ohne zu wissen, dass ich Sängerin bin oder eine Band haben könnte, ein Gesangsengagement. Das ging dann in ein festes Engagement über und läuft seit 2004.

Wir sehen uns auch gar nicht als Coverband, weil wir sehr diskursiv sind und uns austauschen über die 50´er, was wir für ein Gefühl haben zu der Zeit und warum gerade jetzt die 50´er. Und dafür gibt es ganz viele Gründe. Es wiederholen sich gerade ganz viele Dinge, was das persönliche private Drama von Menschen angeht. Da ist diese zuckersüße, watteweiche Musik gefragter denn je. Weil die Zeiten härter sind. Man kann das in der Tiefe nicht vergleichen, aber wir sind wieder in ausbeuterischen Zeiten, die Leute beuten sich selbst aus. Ich glaube, Krieg macht ähnliches mit den Seelen. Die Leute ziehen sich zurück, aber in die Depression, in die Privatheit und sind alleine. In den 50´ern war es so, dass sie froh waren, wieder ein Zuhause zu haben und das zu schätzen wussten und die haben sich gerne zurückgezogen und gemeinsam Radio gehört und so.

Ihr spürt in euch nicht den Drang, Protest zu schreien und dazu aufzurufen, sich zu zeigen und dagegen anzukämpfen? Ihr steht also eher dafür, sich auf sich selbst zu besinnen und sich auch mal was zu gönnen?

Ja, dass die Leute mal wieder dahin kommen, zu sehen was überhaupt alles da ist. Auch an Potential und an Eigenem. Sie stürzen sich in Süchte und Abhängigkeiten. In der Arbeitswelt herrschen katastrophale Zustände. Die Leute machen sich zum Sklaven von dem, der die Macht hat. Das Druckmittel ist der Job, den man verliert, wenn man sich nicht so verhält wie die anderen.  Davon sind die Leute so was von getrieben, dass sie vergessen was ihnen wichtig ist und warum sie auf der Welt sind. Deshalb schreien wir nicht Protest. Es gibt nichts schöneres, als einen Menschen im Publikum zu erleben, der eigentlich sehr unfrei und befangen wirkt und der am Ende aufmacht, tanzt und anfängt zu weinen.
Die Botschaft ist: Beutet euch nicht selbst aus und - Liebe! Aber das ist nix, was du irgend jemandem erzählen kannst. Dann heißt es, du bist irgend ein Sektenführer oder geh´ doch zur Kirche und mach einen auf Pfarrer. Nee, du musste die Leute da, an dem Punkt treffen, wo es dir selbst lange schon weh tut und es gibt für mich keinen emotionaleren Zugang als den über die Musik und auch speziell über diese Musik. Auch wenn das ein verzerrtes und falsches Bild über die 50´er Jahre ist, was heute gefeiert wird, aber in erster Linie, weil es eben auch unsere Geschichte ist. Wirtschaftwunder und allen geht es gut. Es gab auch viele persönliche Dramen, die Leute waren voll davon, es ging ihnen schon jahrelang schlecht, während des Krieges und deshalb haben sie sich irgendwann neues Möbeldesign in die Wohnung geholt, z.B. Resopal und alles knallbunt, Pastellfarben und diese aufwendigen Kleider, die für Lebensfreude sprachen.

Dann steht ihr doch als Vertreter dieser Zeit im direkten Gegensatz zu der heutigen. Damals war das nach einer langen Durststrecke der Beginn. Es ging lange, lange aufwärts. Es wurde jedes Jahr besser und die Möglichkeiten des Einzelnen wurden immer größer. Heute sind wir mitten drin im Abschwung, Chancengleichheit ist nicht gegeben, das Einkommen vieler sinkt und die persönliche Not der Leute wird zurzeit immer größer.

Die Gesellschaft ist zu wenig in Bewegung. Da sehe ich Kunst und Kultur doch als Motor und Möglichkeit. Das ist oft was Exklusives für die Intellektuellen und deshalb machen wir das, was wir machen. Weil es allen zugänglich ist. Damit verbindet jeder eine eigene Nostalgie. Ob da ein älterer Herr steht, der mit im Krieg war und 20 Jahre alt war, in den 50`ern und mit seiner Liebsten zum ersten mal getanzt hat zu so einer Musik. Oder ob es jemand ist, der nach dem Krieg geboren wurde und sich an die Geschichten erinnert, wie es war zwischen Vater und Mutter. Und es sind aber auch Geschichten, die wir auch alle ins uns tragen. Ich kann mich gut an den Kaffeeduft bei meiner Urgroßmutter erinnern. So Überbleibsel aus der Zeit, z.B. wie Oma eingerichtet war. Die Musik läuft auch bis heute noch, auf WDR 4.
Das Aufbegehren der Leute ist sehr groß, es wird aber noch unter dem Deckmäntelchen gehalten, sie trauen sich nicht zu sagen: „Ich will. Und ich will was Gutes." Das war von den Umständen her in den 50´ern was anderes, mit dem Wirtschaftsaufschwung. Aber im Kleinen passiert hier schon was. Es wird von der Boomtown Dresden gesprochen, weil da ein Autowerk aufgemacht und den Leuten geht es damit viel besser. Das sind kleinräumige Effekte. Auch wenn es den Leuten wirtschaftlich besser ging zu Zeiten des Wirtschaftswunders und es an der Oberfläche bis heute noch romantisch schimmert und flimmert, war da ja ganz viel an persönlichem Drama. Männer sind nicht aus dem Krieg zurückgekehrt. Frauen, deren Männer in der Gefangenschaft waren, hatten auch ihre Bedürfnisse und haben mit anderen Männern geschlafen. Daraus sind dann Kinder entstanden, die man dem eigenen Mann dann noch irgendwie unterschieben musste, als er zurückkam, weil man da nicht offen drüber gesprochen hat. Die haben sich eine künstliche Welt geschaffen in der die Musik voller Sehnsucht war.
Die Leute damals wussten, dass sie große Scheiße hinter sich hatten und jetzt was anderes kommt. Und das muss die Gesellschaft heute verstehen lernen, dass es nicht nur gleich bleibend irgendwie scheinbar Scheiße ist gerade für alle, sondern, dass man ja auch selbst was dran ändern kann und das heißt, man geht nach vorne mit einem guten Gefühl und einer positiven Einstellung. Liebe zu sich, dem Leben und den Menschen, die man um sich herum hat. Das ist die Botschaft der 50´er Jahre, finde ich.

Hauptsächlich covert ihr ja Stücke. Könnt ihr euch vorstellen, in Zukunft mehr auf Eigenkompositionen zu setzen?

Frl. Nina und das Resopal am HafenGenau das ist es. Anfangs war ich noch auf etwas wackeligen Füßen im Bereich Musik, so habe ich Sachen gesungen, zu denen ich ein Gefühl hatte, also stimmlich sicher war. Wir wollten eigentlich von Anfang an nur eigenes Repertoire machen, aber wir hatten sofort kleinere und mittelgroße Engagements. Wir haben uns November 2004 gegründet und unser erstes Konzert haben wir Anfang Februar gespielt, also mussten wir uns ganz schnell was drauf schaffen damit wir überhaupt spielen konnten. Das ging immer so weiter. Seit März 2006 schreibe ich Songtexte und komponiere. Parallel macht das auch Ralf, unser musikalischer Kopf. Drei haben wir schon und sechs weitere sind in der Mache. Mitte Oktober wollen wir ins Studio gehen und ein Album machen mit zehn eigenen Songs. Das wollen wir dann für kleines Geld auf unseren Konzerten verkaufen.

Du hast ungewöhnliche Methoden Deine Miete zu bezahlen, Du schreibst z.B. professionell Liebesbriefe. Wieso kannst Du das, was Millionen von Männern und wahrscheinlich auch Frauen nicht können?

Also, ich glaube das könnte theoretisch jeder. Die einzigen Zugangsvoraussetzungen sind wahrscheinlich Sensibilität für andere Menschen und ein bestimmter Bildungshintergrund oder generell, das man ein neugieriger Mensch ist. Ich erlebe das aber so, dass es lieblose Zeiten geworden sind. Die Menschen kümmern sich immer weniger um einander und auch um sich selbst, so dass sie den emotionalen Draht zu sich verlieren. Dass ich das kann, hat - glaube ich - mit meiner Geschichte zu tun. Ich habe selbst jahrelang versucht, der Gesellschaft gerecht zu werden. In dem, was sie von mir will, habe ich den Draht zu mir verloren. Dann habe ich mir das zurück erkämpft, indem ich den Job gekündigt habe und mir eingestand, ok, ich bin Künstlerin und ich will mir die Zeit nehmen dürfen, an bestimmten Stellen genauer hinzukucken, wo andere Leute keine Zeit für haben. Das macht mich nicht zu etwas Besonderem, aber ich habe mir zum Beruf gemacht, zum Medium für andere Leute zu werden. Die erzählen mir von ihrem Leben und ich versuche das Gefühl, das dahinter steht, raus zu spüren. Ich arbeite viel mit Menschen und interviewe sie stundenlang. Wenn ich ein Gefühl für sie habe, kann ich einen Text dazu schreiben. Die positiven Rückmeldungen zeigen mir, dass das der richtige Beruf für mich ist. 

Hilft Dir dieses Talent bei eurer Musik oder ist es umgekehrt?

Das ist immer im Fluss. Das kann man so konkret gar nicht sagen. Für mich sage ich schon, dass der Text an erster Stelle steht. Die Frage ist, wo fängt schreiben an und wo hört es auf. Ich finde, in dem man was erzählt, schreibt man eigentlich schon. Und singen ist ein Ausdruck davon. Ein Ausdruck von Sprache. Es ist besonders spannend und eine Herausforderung, einen Songtext zu schreiben, oder ein Gedicht und nicht nur aufzuschreiben, was die Leute einem erzählen und da 40 Seiten draus zu machen. Es sind kleinere Textsorten, wo du innerhalb von ein paar Zeilen das Gefühl auf den Punkt bringen musst , für das man sich an anderer Stelle 40 oder 80 Seiten Platz lässt.  Wenn ich z.B. jemanden zu seinem Leben interviewe und darüber was schreibe, geht es oftmals um zwei, drei wichtige Botschaften die ein Mensch hat.  Da ist es auf jeden Fall spezifizierender, wenn ich Songtexte mache. Was ich lieber mache, kann ich nicht sagen. Das eine bedingt in jedem Fall das andere.

Wobei schwingst Du denn sonst das Tanzbein, wobei den Putzlappen?

Also, ich kann das gar nicht so trennen. Mein größtes Vorbild ist Bernd Begemann, den höre ich auch fast täglich, weil er es brillant beherrscht, in kleinen Erzählungen das Gefühl für eine beobachtete Situation auf den Punkt zu bringen. Das Prinzip des singenden Schreiberlings. Der inspiriert mich total und ist für mich eine Leitfigur in der ganzen Geschichte. Insgesamt höre ich gerne textlastige Songs. Die gesamte Hamburger Schule, Tomte und Kettcar,  Liedermacher wie Tillmann Rosmy und Tom Liwa. Ich höre immer noch 50´er Jahre Musik - Rock´n´ Roll und Schlager und entdecke da immer wieder neue Sachen. Abschalten bei Musik - also wo es nicht um die Texte geht - kann ich bei irgend so einer Jazzplatte von einer Frau, die ich nicht kenne. Gerade höre ich viel Edith Piaf und Renato Carasone, so´ ne Art neapolitanischer Volksliedsänger. Elektronische Musik höre ich gar nicht, finde ich furchtbar, weil das für mich keine Botschaft hat.

Wo seid ihr schon überall aufgetreten?

Wir waren in schammeligen Kneipenkellern und auch schon einmal bei einem Ehepaar zu Hause, im Wohnzimmer. Das war super. Da wurde die Frau 50, ist also auch in der 50´ern geboren. Die hat sich den Tag einen Petticoat angezogen und es gab typisches Essen.

Mettigel?

Mettigel, genau und so Aspikgeschichten. Am Anfang war es bestuhlt und alle haben gesessen, wie in der Kirche ungefähr. Am Ende war der Teppich weggerollt und fast alle waren am tanzen. Für mich eines der schönsten Erlebnisse.

Gibt es regional unterschiedliche Publikumsreaktionen? Ihr ward u. a. in Basel und seid in Deutschland rum gekommen. Ist euch dabei etwas aufgefallen. Im Ruhrgebiet wird ja vor der Bühne mehr mit einer Bierflasche in der Hand gewankt als getanzt.

Erst mal haben wir ein Generationen übergreifendes Publikum. Wir hatten mal einen, der war 16 Jahre alt und kannte jeden zweiten Song. Es kommt eher darauf an, wo du spielst. Wir fühlen und wohl bei Clubkonzerten, wie z. B. hier in Dortmund im Subrosa. Da ist die Altersspanne bis um die 40 - ungefähr. Uns in der Fremde auszuprobieren, war sehr interessant. Wir haben letztens in Basel kurzfristig ein Konzert gegeben, das war ein reines Tanzkonzert, alle haben getanzt. Das war schon enorm. Ich weiß aber gar nicht, ob das mit unterschiedlichen Regionen zu tun hat. Es kommt auf die Situation an, in der du spielst. Auf einem Straßenfest passieren andere Sachen, als in geschlossenen Räumen. Wir machen da keine Unterschiede. Es gibt kein Publikum, für das ich mir zu schade bin. Wenn ich es schaffe Menschen glücklich zu machen, habe ich gut gearbeitet. Aber Basel hat uns auch richtig viel zurückgegeben. Etwa 200 Leute. Teilweise standen die draußen im Regen und haben durch die Fenster reingeschaut und getanzt. 

Retro verkauft sich ja wie geschnitten Brot! Was könnt ihr euch durch die Musik alles leisten?

Im Idealfall eine Fahrkarte in die Vergangenheit. Wir sind das nicht angetreten, um Geld damit zu verdienen. Ich bin zwar mittlerweile hauptberuflich Künstlerin in Wort und Ton, aber wir versuchen das Bandprojekt frei zu halten von finanziellem Druck. Sonst wären wir auch nicht mehr so frei in dem was wir machen und wie wir das machen. 

Prognose! Habt ihr mit eurer Musik in 2 Jahren einen Trend gesetzt und füllt Stadien oder spielt ihr eher für die Generation 50+ auf Silberhochzeiten?

Du musst die Leute immer da erwischen, wo sich dich nicht erwarten. Deshalb sind es weder die Stadien, noch die Silberhochzeiten, denn dann  ist es wieder so ein Dienstleistungsding. Wir sind uns einig, dass wir keine Plattenfirma und keinen Plattenvertrag wollen, weil wir sind schon auch Underground und Independent, rundum in allem was wir machen mit der Band. Wir produzieren uns selbst, auf der Bühne und dann auch auf Platte. Ich spiele gerne in kleinen Clubs. Wenn es soweit käme, dass wir deutschlandweit 20 Konzerte im Jahr in Clubs spielen können und das mit einer Beständigkeit über Jahre, das fände ich toll. Wenn es uns gelingen sollte, dass wir ein Lied schreiben, wo alle schreien, das ist ein Hit, wüsste ich gar nicht wie ich es fände, wenn es im Radio gespielt würde. Ich weiß gar nicht, ob ich das wollte. Weil die Gefahr verheizt zu werden zu groß ist. Es kann sein, dass irgendwer dich für was einspannt, und du kriegst es gar nicht mit. Dann stehst du schnell auf der Abschussliste und alle haben vergessen, dass du auf die Bühne gegangen bist weil du eine eigene Botschaft hattest und weil du dich ausdrücken wolltest. 

Abteilung Lokalpatriotismus Ruhrgebiet - zunächst ein paar Schnellschüsse, bitte mit kurzer Begründung

Ruhrgebiet oder Ruhrpott?

Pott! Weil es kocht. Ruhrgebiet hört sich für mich nach Begrenzung an. Hier fängt es an und da hört es auf. Aber ich finde es spannender, was innen drin passiert. Diese Exklusivität begründet sich von innen heraus. Man muss da rein gehen und nicht nur die Grenzen des Gebietes abfahren, um zu verstehen was hier passiert. Ich sehe das weiterhin als Schmelztiegel von vielen verschiedenen Kulturen. Das erlebe ich auch im Alltag. Da passiert viel zwischen den Kulturen und da ist es spannend, da ist es warm, da brennt's und deshalb Pott.

Pils oder Export?

Schwierig. Export, habe ich zu Hause gelernt gekriegt, ist ja eigentlich datt nicht so gute Bier. Ich finde aber, es klingt sehr exklusiv. Mir wurde das immer so erklärt, dass es quasi der zweite Aufguss von ein und derselben Biermarke ist, nur so gebraut, das es auch Leuten, die nicht von hier sind, schmeckt. Persönlich kaufe ich mir immer gerne Pils, das in grünen Flaschen. Es kommt vor, dass ich mit speziellen Menschen zusammen bin, die Export trinken, und mit denen trinke ich dann auch Export. 

Regionalexpress oder Ruhrschnellweg?

Regionalexpress!

Schalke 04 oder Wattenscheid 09?

Wattenscheid 09! Unabhängig von den Vereinen finde ich die Geschichte von Wattenscheid ganz spannend. Die sind zwar eingemeindet, aber die machen immer noch von sich reden. Fern ab von dem Institutionalisierungsding haben die sich trotzdem irgendwie so halten können, das finde ich ganz schön. Auch wenn Du BVB und Wattenscheid - äh - heißen die auch 04...

Der BVB?

Nee,  Wattenscheid.

09!

...gefragt hättest, hätte ich Wattenscheid gesagt.

Kanal oder Freibad?

Kanal!

Blockbuster in der Essener Lichtburg oder UEFA Pokal im Subrosa?

UEFA Pokal im Subrosa. Aber nicht, um da Fußball zu kucken, sondern weil das Subrosa mein zweites Wohnzimmer ist. Wenn meines zu langweilig ist, gehe ich da hin. Wenn dann da Fußball gekuckt wird, ist das auch in Ordnung.

Gammelfleischdöner oder Gammelfleischbratwurst?

Bratwurst! Bei Türken esse ich prinzipiell Döner ohne Fleisch - Salattasche -  und deshalb bin ich von diesem Skandal nicht so wirklich betroffen. Currywurst, schön mit Soße drüber und man dann eh´ nicht sieht, wat drinne is, kann ich mir zwischendurch auch ganz gut geben.

Der Pott an sich:  Eure Musik erzählt von Amore, Romantik und Fernweh. Wer Fernweh hat oder davon singt, muss sich mit seiner Heimat auseinander setzen. Lass uns also ein bisschen Sozio-Geographie betreiben.

Was erzeugt bei Dir Fernweh und wohin zieht es Dich?

Ich fühle mich zu Hause, wenn ich viele Fremde um mich herum habe. Wenn ich das dritte mal durch die Stadt laufe und ich immer nur die Gleichen treffe und das Gefühl habe ich kenne alle, dann habe ich Fernweh. Dann will ich einfach nur auf Reisen sein. Das kann auch die Zugfahrt nach Castop-Rauxel sein. Sobald ich in Bewegung bin, begegne ich Fremden und dann fühle ich mich zu Hause. Kompliziert hä?

Und hast Du in der Ferne Heimweh?

Wenn ich verreise, bleibe ich selten länger als drei Tage. Ich fahre mit dem Auto los und wenn es langweilig wird fahre ich weiter, aber nicht unbedingt nach Hause. Wenn ich an fremden Orten bin, frage ich mich immer, ob ich da leben könnte. Aber ich fühle mich eher unterwegs zu Hause, in Bewegung. Da ist Dortmund dann eine Koordinate. Sein emotionales zu Hause hat man eh bei seinen Freunden und seinem Liebsten, aber Dank dieser globalisierten Welt, ist es möglich, immer in Verbindung zu sein.

Die WM hat uns kürzlich eine Welle Ferienpatriotismus ins Land geschwappt. Bist Du mitgesurft oder abgetaucht?

Ich habe von diesem Turnier nur zwei Spiele gesehen. Wir waren auf der anderen Seite und haben da, wo die Fremden waren, auf der Fanmeile 23 Gigs gespielt. Spannend fanden wir, dass Schweden, Togo und Italien zu Gast waren.
Bezogen auf den Ferienpatriotismus, das fand ich eine schöne Tendenz. Manchmal schon fast zu verkrampft und zu hoffnungstrügerisch, aber die Leute haben sich mal wieder getraut, ein positives Gefühl zu entwickeln und dadurch auch irgendwie zu sich. Das fand ich schon toll, auch im Bogenschlag zu 54`. Dass die Leute sich zur Eigenliebe getraut haben, fand ich schön, aber es war dann irgendwann wieder zu verbissen und zu verzweifelt, als die Mannschaft ausgeschieden ist. Da waren die für ein, zwei Tage der Sündenbock für die persönliche Dramen, weil die Leute keine Lust hatten, wieder hinkucken zu müssen, an welchen anderen Stellen es ihnen gerade Scheiße geht. Als Motor fand ich das schon sehr wichtig. Ich hätte nur gut gefunden, die Leute hätten sich ein bisschen mehr davon erhalten.

Kannst Du mit dem Begriff Heimat etwas anfangen?

Ja. Mein Heimatbegriff ist der - wo ich bin - also ein positiver Begriff. Es ist etwas, was ich überprüfen kann, worüber ich nachdenken kann. Auch wenn ich mich manchmal in der Welt verstreue, ist das etwas, woran ich mich festhalten kann, woran ich sehe, dass ich noch da bin und ich mich selber fragen kann, wo bin ich gerade eigentlich und wie finde ich das hier.

Was ist das Ruhrgebiet für Dich, eher die kürzeste Verbindung zwischen zwei H&M Läden oder doch mehr als die Summe der einzelnen Teile?

Natürlich Letzteres!

Konkret! Warum also sollte Gott oder Allah oder sonst wer den Ruhrpott beim Jüngsten Gericht verschonen, anstatt draufzuhauen und zu sagen: Neu machen! Sprich; was schätzt Du am Pott?

Es hat halt enormes Entwicklungspotential, weil hier so viele Menschen und Dinge zusammen kommen. Es gibt keinen Anfang und kein Ende. Und der Dialekt. Ich liebe es, wenn Leute um mich herum Ruhrpott sprechen. Da kann mit einem Wort das auf den Punkt gebracht werden, wo andere einen achtstündigen Vortrag drüber halten. Diese Präsenz mag ich.

Wahrscheinlich wirst Du mittelfristig das Ruhrgebiet Richtung Norden verlassen, ist das eine Entscheidung gegen diese Region oder nur für eine andere?

Es ist eigentlich eine Entscheidung für den Pott. Ich fühle mich ja auf eine Art wurzellos und es gibt noch eine Stadt in diesem Land, in der ich gerne auch ein Bett stehen hätte. Das ist Hamburg. Weil da sehr viele Künstler und Musiker leben, mit denen ich gerne in Kontakt kommen würde. Das Ruhrgebiet nehme ich halt mit dahin, wo ich bin. Deshalb ist es keine Entscheidung dagegen.

Was denkst Du, wenn Du wieder zurückkehrst, können wir dann eher in der Emscher schwimmen oder bei Vater & Sohn (hiesige Opakneipe) eine fleischlose Frikko bestellen?

Ne Frikko bei Vater & Sohn. Ach so, fleischlos? Also, dann nix von beidem wird sich so schnell verändern. Die Stadt ist total lahm und wenn die Tochter von dem Wirt mal den Laden übernommen hat, können wir da vielleicht eher Sojaburger essen, als in der Emscher schwimmen. Aber zu Vater & Sohn gehe ich doch hin, weil ich eine hausgemachte Frikadelle essen möchte, eine mit dem original Biss. Kneipenkultur ist eine wichtige Wurzel hier. Würde sich das stark verändern und ich bekäme dort auf einmal ein Budweiser hingestellt, wäre das ein echter Identitätsverlust. Mir ist die Frikko jedenfalls wichtiger, schwimmen kann ich auch im Kanal.

Die Provinz: Unruhr.de sucht und untersucht in lockerer Runde gerne den Begriff Provinz. Word 2000 sagt dazu z.B. folgendes: Hinterland, Bezirk, Diözese, Gau, Sprengel, Domäne und Wirkungskreis. Du kommst viel rum, in der Stadt und auf dem Lande, Du musst es also wissen.

Wo ist die Provinz, wo bist Du ihr überall schon begegnet?

Die gibt es überall und nirgendwo. Da, wo mir weltoffene und freie Menschen begegnen, ist nicht die Provinz. Provinz ist bei Leuten, die so sehr, klein in klein in ihrem Leben gefangen sind, dass sie nicht mehr offen sind für irgendetwas. Das kann mir auf dem Fußballplatz im Vorort passieren oder mit einer intoleranten Kassiererin im Lidl zu tun haben. Überall da, wo Menschen das Leben, wie sie es führen, für das einzig Richtige erklären. Wenn sie darauf beharren und das ausstrahlen, das ist für mich die Provinz.

Was ist denn Provinz für Dich? Eher ein Ort oder eher ein way of life?

Eher ein way of life. Zu einem bestimmten Veranstalter, mit dem ich zu tun hatte, konnte ich sagen, der ist provinziell.

Unser Ergebnis war in etwa: Provinz kann in der schicksten Hose auftauchen, überall. Gibt es für Dich die absolute Superprovinz, einen Ort oder Zustand, wo das Licht verschluckt wird und niemals ein Newsletter erscheinen wird?

Ja, das war für einen Moment erfrischend, weil ich wusste, ich kann bald wieder fahren. Das war in einem Ferienort, in einer Ferienanlage auf Rügen. Wo im weiten Umkreis kein anderes bewohntes Haus stand und erst recht kein Supermarkt war und der installierte Telefonmünzapparat am Empfang dieser Anlage defekt war. Fünf Jahre ist das her. Da habe ich gedacht, das ist Provinz. Es hatte aber auch seinen Reiz. Ich war aber auch froh, als ich nach drei Tagen wieder weg war.

Mal anders herum, so was könnte ja auch nett sein. Kann die Provinz auch ein schöner Ort sein, den wir suchen sollten um zu bleiben?

Ja, der Ort, aus dem meine italienische Familie kommt. Ein Bergdorf mit tollen Blick auf das Meer, auf die Bucht der Poeten. Da fährt der Bus nur drei mal am Tag. Ein Ort, an dem ich zu mir finden könnte, nur um zu schreiben. Und wenn ich ab und zu in die Stadt könnte, um wieder die Welt zu sehen und Menschen zu begegnen, damit ich wieder was in mich aufnehmen kann, worüber ich schreiben kann, das ist das, wo ich mir perfekt meinen Lebensabend vorstellen kann. Provinz im positiven Sinne.

Dankeschön Frl. Nina und Grüße an das Resopal. 

http://www.fraeulein-nina.de/

mszy