Assessmentcenter 302

Tot den BVB!Viel wird um die Stellenbesetzung des künstlerischen Leiters für die Ruhr 2010 GmbH diskutiert, der ein Gesamterlebnis Ruhrgebiet für uns alle schaffen soll. Der Anforderungen sind es viele. Die Eignung des Kandidaten scheint jedoch überprüfbar, stellte man ihm die Aufgabe, eine Fahrt mit der Straßenbahnlinie 302 zwischen zwei herausragenden Ankerpunkten des Ruhrgebiets künstlerisch umzusetzen. Zwischen der Jahrhunderthalle und der Veltinsarena. Eine Fahrt am Spieltag des kleinen Derbys zwischen dem S 04 und dem VfL. Eine Reise durch die Hinterhöfe der kommenden Kulturhauptstadt.

Wir starten an der Jahrhunderthalle. Die Haltestelle, die eigentlich so sehr passend Bochumer Verein heißt. Ein Mensch betritt die unterirdische Haltestelle, schummrig beleuchtet wie eine Theaterbühne. Vom Kopf bis Fuß in Leder, dieser junge Mann. Auch im Kopf kann sich lediglich stinkender Lederrestbrei befinden, ist er sich nicht zu schade, einem wartenden Rollstuhlfahrer Prügel anzudrohen, weil der doch damals im Zillertal so eine große Fresse hatte. Als er noch laufen konnte. Weißt du noch? Leider läuft im Hintergrund nicht Beethoven, was die Assoziation zur rohen Gewalt im Uhrwerk Orange auf den Punkt bringen könnte.

Überhaupt Fresse. Mit Abstand das am häufigsten vorkommende Wort der 45-minütigen Fahrt. Immer im Kontext mit halten oder hauen. So auch dieser kleine Türke. Der vielleicht 13-jährige Stöpsel, dessen gestylte Haarpracht an ein krebskrankes Kaninchen erinnert, schafft es mühelos, in den simpelsten und kürzesten Satzkonstruktionen Fresse hauen unterzubringen. Mit der Geschwindigkeit und Wiederholungsrate eines automatischen Kirschentkerners. Genaugenommen bestehen seine Sätze nur aus dieser Phrase. Nein, gar nicht wahr. Adolfs Söhne kommt  auch ständig vor. Seine glanzvolle Performance schließt er beim Aussteigen ab, indem er durch die sich schließenden Türen der Bahn dem Nächstplatzierten knallend ins Gesicht schlägt.

Wir sind in Ückendorf. Es sieht auch so aus. Hier hängt niemand das Prekariat ab. Es bleibt einem ständig auf den Fersen, nicht nur weil die 302 sich mit der Geschwindigkeit eines Rohrkrepierers bewegt. Das türkische Kindertheater wird vom Premierenpublikum natürlich aufgeregt diskutiert. Die Meinungen gehen auseinander. Die aktive Fraktion hätte sich den Kurzen geschnappt und dann...Der Riese, dessen Brille ins Gesicht geschweißt ist respektive, dessen gerötete Bierbacken das goldene Gestell stellenweise überwuchert haben, und der auf dem Kopf trägt, was Atze Schröder letztens nach der Zugabe von der Bühne warf, meint salomonisch: Wenne dir den Kurzen schnappst, hasse gleich seine 10 großen Brüder mitte Messer am Hals.

Da singen wir doch lieber. Dafür zuständig ist der akkurat gescheitelte Sohn aus der Oberstufe des Schiller-Gymnasium. Mama hat gerade noch seine Mundwinkel mit Spucke gesäubert. Jetzt spannt er seine Stimmbänder, die gut geölt sind durch Drogen der Jungen Union, dem Pfläumchenschnäppschen namens Klopfer. Er initiiert einen ausgeklügelten Gesang im call-and-response-Schema des Blues. In etwa so: Vorsänger Schleimbeutel stimmt an, Wer fickt die Frau von Sven Vermant? Die Meute retourniert mehrstimmig, Ebbe, Ebbe, Ebbe Sand. Die intellektuelle Fußnote besteht darin, dass weder Ebbe Sand, noch Sven Vermant oder seine Frau dem aktuellen Kader von Schalke 04 angehören.

Die Würdigung farbiger Plantagenarbeiter muss an der nächsten Haltestelle kurz unterbrochen werden. Die Türen gehen auf, die draußen stehenden Schalker intonieren: Ihr seid der Abschaum der Liga. Die Bochumer in der Bahn entgegnen überraschend: IHR seid der Abschaum der Liga. Dadaismus?

Die kulturelle Vielfalt ist immens. Ein abschließender Dialog zweier Schalker kreist um die Frage, wer denn demnächst die Elfmeter der Königsblauen nach dem abermaligen Fehlversuch gegen Bochum schießen sollte. Das Gespräch ist eine exzellente Aufarbeitung des Warten-auf-Godot-Themas. Beckett'sche Syntax auf Schienen.

Das Spiel ist lediglich als Detail in das Gesamterlebnis des Abends eingebettet. Schalke gewinnt standesgemäß und verdient 2:1. Keine Überraschung durch den VfL Bochum, der sich jedoch achtbar aus der Affäre zieht. Es ist ein echtes Ruhrpottduell. Beide Mannschaften malochen, doch wer genau hinsieht, stellt fest, beide Mannschaften werden ihre Ziele kaum erreichen. Schalke wird nicht Meister werden, die Bochumer nicht die Klasse halten. Alles bleibt wie es ist. Wahrscheinlich auch bis 2010.

Das Ruhrgebiet gibt es nicht, die Einzelteile sind sehr mit sich selbst beschäftigt. Der künftige künstlerische Leiter sollte also einen ganz großen Hut mitbringen. Es muss viel darunter passen: Blauweißes und Schwarzgelbes, das gläserne Rellinghaus und das versteinerte Ückendorf, der BahnCardFirst-Nutzer und die Fahrscheinlosen in der 302.

Foto: Katja Helten

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