Gute Aussichten 2005/2006

{jcomments off}Foto: Nadine Fraczkowski, Labelstore, gute aussichten 2005/2006
Foto: Nadine Fraczkowski

Warum geht man in eine Ausstellung? Oder besser: Warum geht man zu einer Vernissage? Natürlich um die Vorurteile über das dortige Publikum bestätigt zu finden. So geschehen auch am 03.02. im Künstlerhaus in Dortmund zur Eröffnung der "Guten Aussichten 2005/2006", einer Ausstellung junger deutscher Fotografie, die bereits im letzten Jahr mit tatkräftiger Unterstützung der neuen Berlin-Flüchtlinge von Spex für Horizonterweiterung sorgte.

Der typische Spex-Leser gehört zu einem Milieu, das die Trendforscher von Sigma als postmodern bezeichnen. Rund 6,9% oder 4,8 Mio. Personen gehören in Deutschland dazu. Das ist jedoch ein Widerspruch in sich, denn das postmoderne Milieu zeichnet sich durch extremen Individualismus aus. Ich will jetzt nicht das Wort Egozentrik benutzen, aber ... na ja ... eigentlich ist es das.

Wir erleben im postmodernen - manche sagen auch beliebigen - Milieu die gänzliche Erfüllung der Bricolage-Kultur unserer Tage: Durchschnittsgeschmack ist von übel, aus allen Lebensformen bastelt man sich seinen eigenen und einzigartigen Stil. Experimente und Widersprüche sind erwünscht. Derartige Menschen hausen in Wohnungen, in denen die Raumfunktionen aufgehoben sind, der Einrichtungsstil ist geprägt von Brüchen. Zurzeit flaut gerade die Retro-Welle ab und die Exponate aus den 70ern, die man sich kürzlich noch mühsam auf verschlungenen Wegen oder aus Papas Partykeller zusammengeklaubt hat, tauchen schon in zu vielen Mainstream-Wohnungen als neo-bürgerlicher Chic auf. Man bastelt daher schon an neuen Entwürfen.

Die eigenen Klamotten können Trash mit Luxus, die Federboa mit Sneakers vereinen und erlauben als Ernährungsaccessoire neben dem Glas Bier auch die Litschi-Bionade auf Eis mit zerstoßenen Kirschkernen. Natürlich ist man liberal, verachtet Bush und scheut sich nicht, seine politische Meinung zu äußern - am liebsten gegen die vorherrschenden Anschauungen, schon aus Prinzip. Es sei denn, es geht um Nazis: Da weicht man keinen Zentimeter, bildet traditionell die Speerspitze der Gesellschaft und wittert hinter jedem leicht deutschtümelnden Lied das Vierte Reich.

Man liest Spex, "Auf Abwegen", de:bug, Phlow, Kunstmagazine mit einer Auflage von maximal 1000 Stück, wenn es in den Mainstream abdriftet auch mal die Zeit, taz oder die Süddeutsche, hat als Wirtschaftsmagazin bestenfalls brand eins abonniert. Indie-Musik ist Pflicht, ebenso lokale Underground-Künstler, die man persönlich kennt oder besser noch zu seinem Freundeskreis zählt. Man ist selbst in diversen losen Projekten aktiv, zum Beispiel Künstlergruppen, Bands oder Crossmedia-Initiativen, kennt DJs oder ist selbst einer. Geld ist nicht so wichtig, die Selbstverwirklichung steht im Mittelpunkt, ebenso wie das Netzwerk an kreativen Freunden mit ähnlich individuellen Lebensentwürfen. Niemand aus dem postmodernen Milieu kennt einen Schadenssachbearbeiter in einer Versicherung. Und das Schlimmste wäre eine Identität, die sich in irgendein Milieu pressen lässt.

Und wenn ihr jetzt noch wissen wollt, was derartige Menschen sich für Fotos anschauen oder - besser gesagt - als Rahmen einer Vernissage ansehen, auf der es gilt, seine Identität zu suchen und bestätigen. Dann geht ihr bis zum 12.03. ins Künstlerhaus nach Dortmund oder seht euch die folgenden Websites an. So wie ich es auch getan habe.

gute aussichten-junge deutsche fotografie 2005/2006 bis 12.3.2006 in Dortmund, dann in Frankfurt/M., München & weltweit zu sehen

www.guteaussichten.org  (Vorsicht: nicht zu verwechseln mit dem gruseligen www.guteaussichten.de)
www.kuenstlerhaus-dortmund.de
www.spex.de

Foto: Nadine Fraczkowski, Labelstore, gute aussichten 2005/2006