Heinz Rudolf Kunze - Reine Nervensache (1981 WEA)

Da stand also ein 23-jähriger, somit nicht in Verdacht ein Altachtundsechziger zu sein, die vielleicht gut drauf waren, trotzdem suspekt, wie unser Englischlehrer in seinen hautengen, selbstgestrickten Pullundern.

Es war Sommer 1981 . Meine lila Windel, mein blauer Rucksack, drei grüne Freunde, unser rotes Zelt und ich begaben uns auf Europareise. Für 410 Deutsche Mark versprach uns die Deutsche Bundesbahn unter dem damals schier revolutionär klingenden Anglizismus Interrail für 30 Tage grenzenlose Freiheit. Auf der furchtbar langweiligen Zugfahrt durch Österreich, dass wir wegen unserer Elternurlaubs-Kindheits-Traumata nur schnell hinter uns bringen wollten, hörte ich im kaiserlich-königlichen Rundfunk mit Blick auf Madeln und Buam und glücklichen Kühen Für nichts und wieder nichts. Ein Erlebnis, das in so früher Jugend kaum zu verarbeiten ist und zu bleibenden Schäden führen muss. Völlig paralysiert verpasste ich, Stift und Zettel zu ergreifen. Be- und entgeistert bemühte ich mich, die Ansage zu behalten. Gott sei Dank war es schrecklich simpel, weil deutsch: Ich merkte mir Kunze mit doppeltem Vornamen.

Das reichte, um Wochen später, zu Hause angekommen, die begehrte Scheibe in Händen zu halten: Reine Nervensache von Heinz Rudolf Kunze. Allerdings war ich meiner Sache nicht sicher. Der Name, das Cover. Kann jemand, der Heinz Rudolf heißt und aussieht wie Mamas Traum vom Schwiegersohn solch garstige Sachen singen?

Da stand also ein 23-jähriger, somit nicht im Verdacht, ein Altachtundsechziger zu sein, die vielleicht gut drauf waren, trotzdem suspekt, wie unser Englischlehrer in seinen hautengen, selbstgestrickten Pullundern. Musikalisch war zwar zu Beginn der 1980er Jahre der deutsche Befreiungsschlag mit der Neuen Welle im vollen Gange, inhaltlich-intellektuell jedoch waren wir als Mitglieder der reformierten Oberstufe auf die Holländer von Bots, vielleicht Ape, Beck und Feuerstein, im schlimmsten Fall auf Stephan Sulke und Wolf Biermann angewiesen, um Räucherstäbchenatmosphäre entstehen zu lassen.

Kunze war unser Liedermacher . Der schreckliche Begriff ließ sich noch nicht ersetzen (Songwriter trauten wir uns nicht), doch konnte er anders ausgefüllt werden. Heinz Rudolf sagte Atomsprengköpfe, aber auch abgefuckt, sang von den Parteitagsgeländeruinen, doch ebenso vom Brennen einer völlig vollen Hose.

Natürlich mussten wir Phimose im Lexikon nachschlagen und heimlich im Katalog der Stadtbücherei nach Gedichten von F. C: Delius suchen. Doch wussten wir schließlich von Hubert Kah und Joachim Witt, was Minimoog und Sequencer waren. Und genau das vermissten wir doch bei Sulke und Biermann.

Erst heute, nach der ersten Psychotherapie, verstehen wir einen Song wie Romanze: „..ich lade mich / zum Kaffeetrinken ein / ich plaudere mit mir / den ganzen Nachmittag hindurch / ich stelle fest dass ich / die gleichen Filme mag / wie ich...“

Am 26.05.1982 lud Heinz Rudolf Kunze dann für 15 DM incl. MWSt. plus Vorverkaufsgebühr in die Zeche Bochum. Es schien eine Privatparty zu sein und etwa 50 Leute kamen. Wir selbstredend auch. Staunend betrachteten wir seine Performance aus Liedern und Gedichten. So etwas hatten wir noch nicht gesehen. Kunzes erstes Album lief zu Hause immerzu, und heute wundere ich mich, was Vinyl alles aushält.

Als ich die Platte wieder auflege, höre ich das wohlige Kratzen, das man heutzutage als Gimmick auf CDs brennt. Aber Reine Nervensache läuft noch wie ’ne Eins. Jetzt habe ich sie zum fünften Mal hintereinander gehört. Meine Frau hält mich für bekloppt. Vielleicht sollte ich meine Interrailtour von damals nachreisen, retraveln...?...Es ist ein Wahnsinn, sich so früh schon zu erinnern, / wo wir doch wissen, daß es andren nicht so geht.

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