20110520


Geschichten aus der Todeszelle
»Kommt sie oder kommt sie nicht ...?«

Der Mann im Bett. Der Mann im Rollstuhl im Bett. Es ist - die Digitalanzeige grünt: schon zwei Uhr nachts. Nichtmal einen runterholen kann er sich. Taube Wurst zwischen den Beinen. Selbst wenn er die mit der Schere abschnitte, er würde das nicht spüren. Nur den Blutverlust. Der Gedanke, dass SIE ihn abschneidet, erregt ihn. Sein Atem geht schneller in dem stickigen Beige-Zimmer. Fenster sind zu, wegen des Fiebers, hatte sie gesagt. Sie. Er hätte jetzt einen Ständer bekommen müssen, aber so eine schwabbelige Grillwurst wird erst hart, wenn sie auf dem Feuer liegt.

Ich spüre auch nichts, als der Pfleger mir das Urinalkondom überstülpt. Scheiße. Das Fenster ist auf. Diese Vögel haben mich geweckt. Nicht der Pfleger. Das Morgengrau versucht irgendwie hineinzukommen, aber das Deckenlicht ist stärker. Und brutal dazu. Es brennt und mein Traum huscht davon, weg ist er, ein wirklich schöner Traum, kein Schweinskram, einfach ... ein Traum. Immerhin. Wenigstens.
»Sie schlafen aber lange, Herr ...«, er sagt meinen Namen als wäre der die Pointe eines Witzes.
»Wie spät?« (ich)
»Wohl Besuch gehabt, was?« Der Pfleger, ein Zivi, lacht.
»Warum so früh?« Ich bin sauer.
»Muss ich gleich zum Neuen. Der dauert ...« Vielwissender Blick, er wedelt mit der Hand vor seiner Brust.
Der Neue, das ist Herr Bertram. Schläft jetzt im Zimmer vom Friedrich.


>>> Kommentar des Zividienstleistenden: »Herr Bertram sieht aus wie Rudolf Mooshammer ohne Hündchen. Das schwarze Haar hochtoupiert und elegant nach hinten gekämmt, füllig wie die dichten, aber gepflegten Augenbrauen, glänzend wie der nicht weniger gepflegte Schnurrbart. Anders als bei Mooshammer sind die Haare von Herrn Bertram von grauen Strähnen durchzogen, aber er ist genauso groß wie der Fernsehmann und genauso gut im Futter, und beide haben gemeinsam, - na ja, der Mooshammer HATTE - dass sich ihre Leibesfülle gut verteilt und nicht als solche wahrgenommen wird. Herr Bertram trägt schwarze Lammlederhandschuhe und einen Anzug, der für meinen laienhaften Blick nicht preiswerter ist als das, was Mooshammer am Leib hatte; für mich jedenfalls unbezahlbar, und selbst für seine Schuhe hatte Herr Bertram mehr hingelegt, als ich in zwei Monaten hier verdiente.

Mein Job war es gestern Abend, Herrn Bertram ins Bett zu bringen. Unter anderem, neben den Rollstuhlfahrern und all jenen, die alleine nicht klarkommen.
Ich hätte mich fragen sollen, wieso Schwester Sonja mir ausgerechnet Herrn Bertram zugeteilt hat. Aber Schwester Sonja ist der Boss - und ich nur der Zivi, ein durchlaufender Posten gewissermaßen, und durchlaufende Posten stellten keine Fragen. Ich fragte also nicht, sondern stellte mich breitbeinig vor unserem neuen Patienten auf, der mir im Flur entgegenkam. Der machte überhaupt nicht den Eindruck eines Mannes, der nicht klarkam. Sein Gang war steif, aber das war bei den Mittfünfzigern dieser Sorte Mann nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlich war allerdings, dass er seine Hand einmal komplett um die eigene Achse drehen konnte.
»Hey Mann ...«, sage ich statt einer vernünftigen Begrüßung, und diese Hand wollte ich auch nicht mehr schütteln.
Herr Bertram grinste. Trotz der blassen Gesichtsfarbe sah er dabei fast aus wie ein Inder, mit seinen dunklen Augen über den hohen, allerdings ziemlich speckigen Kugelwangen.
»Bringen Sie mich ins Bett?«, fragt er. Seine Stimme war nicht hoch, nicht tief, ein wenig kehlig vielleicht und von jener distanzierten Leidigkeit, wie ich sie auf dieser Station schon oft wahrgenommen hatte. Es war die Stimme eines Mannes, der gar keine andere Chance hatte, als Zufriedenheit auszustrahlen, der gelernt hatte, zu jeder Situation zu lächeln und einen kleinen, witzig gemeinten Spruch aufzusagen.
»Ähh, ja ...«, antworte ich, »ich bin Thomas, der Zivi hier, ich soll ...«, und dann gab ich ihm doch die Hand und ergriff ein Stück Holz. Es war natürlich kein Holz, es war Leder, und darunter Kunststoff und darunter vermutlich Metall und Motorentechnik. Aha, dachte ich, DESWEGEN also beim Zubettgehen helfen.
»Der Zivi isst gern Kiwi!«, sagt Herr Bertram, kicherte und ich bemühte mich ebenfalls zu kichern, und dann gab er mir mit dem Kopf den Wink, ihm zu folgen. Ungelenk dreht er sich um, zieht das rechte Bein nach und stolziert erhobenen Hauptes in sein Einzelzimmer.
Ich kenne Einarmige, die Fahrrad fahren. Was um alles in der Welt sollte ich denn mit dem Kerl jetzt machen, fragte ich mich.
Seine Anweisungen waren - von den humorigen Zusatzkommentaren abgesehen - sachlich und präzise. Er zeigte mir, wie ich ihm helfen musste, in voller Kleidung aufs Bett zu kommen. Und als er dort lag und ich ihm Hemd und Hose auszog, hatte ich plötzlich einen Roboter vor mir, der zur Inspektion auseinandergenommen werden musste.
Herrn Bertrams ECHTE Gliedmaßen beschränkten sich auf einen - linken - Arm. Der Rest war Technik, Hightech-Technik, aber letztlich eben nur Technik.
Meine Aufgabe bestand also darin, Herrn Bertram für die Nacht in seine Bestandteile zu zerlegen, diese mit Waschbenzin reinigen, die Gelenke zu ölen und alles ordentlich auf dem Stuhl neben dem Bett abzulegen.
Dann waren die Stümpfe dran, die Echtfleischteile, die ebenfalls vom Tagesschweiß gesäubert werden mussten, und natürlich die offene Druckstelle am Steißbein, wegen der er hier war, zu versorgen und zu verbinden. Während ich also wie ein Mechaniker an diesem ersten Androiden meines Lebens herummachte, erzählte der unentwegt Witze und Schwänke aus einem fernen Leben.«