Ruhr2010 ist tot -
lang lebe EMSCHAU2011
Wer kennt alle Städte im sogenannten Ruhrgebiet? Und wer kennt Emschau? Emschau a.d. Emscher (wie der Name schon vermuten lässt), ein idealruhrgebietstypischer Siedlungsbrei ohne Anfang und ohne Ende, grenzenlos provinziell, ein hundsgewöhnliches Dingenskirchen zwischen Bochum, Dortmund und Castrop-Rauxel, ganz bestimmt KEINE RuhrSTADT, höchstens eine UNRUHRstadt, auch wenn hier "Nymphalidae" verlegt wurde, man sich also nicht bloß metropol, sondern gleich richtig interstellar gibt; aber der Bahnhof über der immer noch einbetonierten Abwasserkloake, die der Stadt den Namen gibt, und der zur Investitionsruine verkommene zweite Rathausturm (Emschau grüßt New York!) sprechen für sich; wenn es auch echte Highlights gibt: wie den riesigen Chemie-Hafen und den wirklich wunderbar unchristlichen Emscherdom.
2011 wird das Jahr von Emschau. Geschichten aus einer Stadt, die man nicht kennen möchte.
11-01: Wo liegt Emschau?
Der schwarze Afghane war gut. Sie lachten und lachten, als wäre Lizas Geschichte von den auf der Erde gestrandeten Außerirdischen komisch statt tragisch.
»Und du, Christopher«, prustete sie, »du könntest Djalu sein, der Aborigine-Junge, der ...«, das 'Djalu' explodierte in seinem Kopf wie ein Lichtblitz. Er lachte ein paar Takte weiter, aber es klang wie das Nachgurgeln einer abgesoffenen Maschine - einer Maschine, die irgendwann mal 'Djalu' geheißen hat. Sein Blick verengte sich, die Sperrholzmöbel des Appartements zerliefen wie hinter einem Wasserglas. Weg! Bloß weg hier!
»Christopher!«, hört er Lizas ferne Stimme wie aus einem Grammofon. Dass er schon im Aufzug des Schwesternwohnheims steht, merkt er erst, als ihm die Schwerelosigkeit den Magen umdreht. Bloß nicht kotzen! Er versucht, sich auf die Knöpfe und Schilder zu konzentrieren. Ist er nicht in einer resopalverkleideten Rumpelkabine zu Liza hochgefahren? Das hier aber ist eine verspiegelte Raumkapsel aus Edelstahl mit blinkenden Lichtsymbolen. Eine Raumkapsel, die abstürzt. Alles dreht sich. Er schreit.
Christopher findet sich auf der Straße wieder. Eine Straße, denkt er, nur eine Straße - Ampeln, Asphalt, weiße Streifen, aber ... die Autos! Er erkennt kein einziges der klobigen Fahrzeuge, auch keines der kleinen, putzigen. Was hat er nur geraucht? Und wieso ist es helllichter Tag? Die Klinik, sein Zivildienst! Müsste er nicht arbeiten? Er geht einfach weiter, zwischen vertrauten Häusern, in jedem Detail fremd. Sogar der kleine Bioladen hat seinen Wurzelcharme abgelegt und prahlt mit erschreckend klaren Farben. Der Mann hinterm Schaufenster, ist das ... der Vater von Thomas? Oder ... das ist Thomas selbst, der Inhaber! Thomas sieht Christopher fragend an, ohne ihn zu erkennen. Weitergehen! Solange er geht, bleibt wenigstens der Magen ruhig. Erneut schießt ihm Lizas 'Djalu' durch den Kopf. Was für ein Dope! Er ignoriert die Wahrnehmungsstörungen, will nur noch nach Hause. Aber am S-Bahnhof kommt ihm eine Idee. Das Bergwerk! Er könnte nach Emschau fahren, zum Bergwerk. Zu dem Schacht, in dem die Außerirdischen und ... Djalu das Licht DIESER Welt erblickt haben. Lizas Geschichte war fantastisch, aber wieso kann er sich plötzlich an ... 'Djalu' erinnern?
Auch der Bahnhof hat eine Science-Fiction-Verkleidung. Überall spiegelglatte Flächen, in denen er sein Gesicht betrachten kann. Ist das ein ... Aborigine-Gesicht? Was unterscheidet überhaupt einen Aborigine von anderen Schwarzen? Vater ist Amerikaner, Afro-Amerikaner, AFRO! Und wenn Christopher in Wahrheit ein halber Australier sein soll, wie konnte Mutter ...?
Es gibt keinen Fahrkartenschalter, und die Automaten sind tastaturlose Computerkästen mit Bildschirmen. Er versucht, ein Ticket nach Emschau zu lösen. Nur wie?! Es geht nicht. Aber er hat Geld dabei und beschließt, im Zug nachzulösen.Am Bahnsteig studiert er den Netzplan. Auch der hat sich verändert, und dann fällt Christopher das Gültigkeitsdatum auf: 30.06.2010. Er schüttelt den Kopf und rechnet nach: 25 Jahre! Der Netzplan ist 25 Jahre gültig!
Ein Mann beobachtet ihn. »Das ist nächstes Jahr ...«, sagt er.»Hä?!«
Ein kleiner, unangenehm bleicher, kahlköpfiger Kerl, mager wie ein Gerippe. Sein langer Kopf ist vorgebeugt, sodass die Schulterblätter den Mantel wie Flügelstummel ausbeulen. Große Augen ohne Augenbrauen tasten Christopher von oben bis unten ab. Dann verbiegt sich der Schlitz unter seiner winzigen Nase zu einer Art Lächeln: »Dein Geburtsjahr?!«, die Stimme ist hoch, wie von einem Kind.
»Nächstes Jahr mein Geb...?«, Christopher antwortet nicht. Der Kerl ist eine Halluzination! Wie die meisten Leute, wie die Jugendlichen dort mit ihren bizarren Plastikfrisuren und Funkgeräten aus »Raumschiff Enterprise«. Auch die Halluzination scheint auf dem Plan nicht zu finden, was sie sucht. Aber fährt nicht die S1 durch Emschau?
Im Zug sitzen sie sich gegenüber. Christopher sieht hinaus, versucht das, was er sieht, mit dem, was er sehen sollte, in Einklang zu bringen. Die Augen schmerzen - oder ist es der Kopf? Als er dem Schaffner einen Zwanzigmarkschein hinhält, muss der lachen: »Nein bitte, nur Euro!« sagt er.
Auch der Fremde grinst: »Ich zahle für ihn!«
Christopher fragt den Kontrolleur, ob der Zug in Emschau hält.
»Wollen Sie mich ...? Ist das hier 'versteckte Kamera' oder was? Emschau? Was soll das sein?«, er geht. Der unheimliche Mann durchbohrt Christopher mit seinen viel zu rot geäderten Pupillen. Er erinnert ihn an ... etwas? Oder an jemanden.
»Wieso helfen Sie mir?«, fragt er ihn.
»Ich hatte das gleiche Problem. Ich musste mein Geld umtauschen. Man bezahlt jetzt mit Euro.«
»Euro?«
»Ich will auch nach Emschau«, raunt der Mann ihm leise zu, »ich will sichergehen, dass es weg ist!«
»Weg? Wieso weg?!«, ruft Christopher erregt.
»Das World Trade Center ist jedenfalls weg!« flüstert der Mann.
Dieser Eierkopf scheint noch schlimmeres Pot geraucht zu haben. Christopher sieht sich Hilfe suchend nach anderen Fahrgästen um. Doch die schauen alle auf ihn. Es ist SEIN falscher Film, und nicht der des Wachsgesichts.
»Das World Trade Center ist nicht weg!« sagt Christopher laut, worauf ein älterer Mann ihm zuruft: »Hömma' Freundchen, wat tu'sse uns da eingslich die ganze Zeit erzähl'n?«
»Ich will nur nach Emschau. Emschau an der Emscher, bei Dortmund, bei ... zu dem Bergwerk!«
»Erzähl DU ei'm alten Berchmann wat vom Kriech. Emschau! So'n Quatsch!«
Christopher sinkt in dem plüschigen Sitz zusammen.
In Dortmund steigen sie um, fahren nach Castrop Rauxel, und weil auch dort niemand je etwas von Emschau gehört haben will, kaufen sie eine Ruhrgebietskarte und beschließen, die Stelle, an der man Emschau ausradiert hat, zu Fuß zu finden. Wie lange wirkt das Dreckszeug eigentlich noch?
Unterwegs erzählt ihm der Fremde, der sich Chelis nennt, von einem ominösen Bin Laden, mit dem er in Afghanistan gegen die Kommunisten gekämpft habe, und dass, seit der Islam das Land beherrsche ...
»Was ?!« - »Sag mal, von wo kommst DU eigentlich?«
»Na Duisburg ... Buchholz ...«
»Nein, aus welchem Jahr?« Der spinnt! Die spinnen alle, ALLE!
»1985«, sagt Christopher und ist sich selbst nicht mehr sicher.
»Nicht 1967?«, die Augen des Mannes wollen ihn fressen.
»67'? Da war ich vier!«, Christopher muss würgen, sieht sich plötzlich in einem Bergstollen, 1967, mit Liza! ... und den anderen ... und Chelis!
»Also 63' geboren?«
Nein, sagt eine Stimme in Christopher, NEIN, NEIN, NEIN!
»Ich komme von 1994«, sagt Chelis, »Bin Laden hat sich in den Sudan zurückgezogen. Aber wir brauchen sein Charisma, und auch sein Geld, wenn das WTC vernichtet werden soll!«
»Du mit deinem World Trade Center! Wieso willst du so eine tolle Architektur zerstören?«
»Damit du nicht geboren wirst!«
»...?«
»Meine Schwestern würden HEUTE, am vierten Juli 2009, versucht haben, darauf zu landen. Was ihr Ende wäre ...«
Christopher und Chelis wandern durch eine Feld-Wiesen-Flur zwischen Bochum, Castrop und Dortmund, umgeben von einem Horizont aus Kühltürmen und Schloten. Da, wo sie in der falschen Karte ein Kreuz für das Zentrum von Emschau markiert haben, steht nur eine vom Alpenverein gestiftete Bank aus halbierten Baumstämmen. Christopher möchte kotzen!
Aber Chelis scheint zufrieden: »DICH wird es nie gegeben haben. Und WIR haben die Erde nie aufgesucht!«, er kichert, seine Stimme wird schwächer, »'wir' ... ICH sowieso nicht!«
Christopher sieht die ausgemergelte Vogelscheuche an. Die ist so dünn, dass man fast hindurchsehen kann. Es hämmert in seinem Kopf. Müde setzt er sich auf die Bank und döst ein.
Djalu träumt wieder Kind zu sein, und von einem schwarzen Busch, in den er Bumerangs hineinschleudert - wie Flugzeuge schlagen sie in die Blätterhaut. 2014, das ist das richtige Jahr! Er ist vier und nicht ... Wann war das? Wann wird das?
Stimmen, die kamen und gingen, weckten ihn. Über ihm ragte der Traumbusch auf. Nein, kein Busch, das war das kubistische Rathaus von Emschau. Er war nicht im Wald, sondern lag wie ein Penner auf einer Bank am Bahnhof. Emschau! Er war ... da! Die Wirkung von Lizas Teufelszeug hatte endlich nachgelassen; der Albtraum ... vorbei ... 1985 - jetzt?
(aus dem Manuskript gestrichener und deswegen hier gezeigter Auszug aus "Die Kinder von Nymph", dem zweiten Teil der "Nymphalidae"-Trilogie)