20111210

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Geschichten aus der Todeszelle
Der nächste Morgen ist nicht mehr der erfrischte Kopf. Nicht der kaffeeduftende eines klaren. Er ist das Erwachen im Schankraum einer Wirtschaft, die längst geschlossen hat, in der man als Vergessener zwischen Tischbeinen und Stühlen und Bodenflüssigkeiten und den Resten illegalen Tabakkonsums liegt. Er ist der Morgen feuchter, kalter, von Musik und Gelächter vergewaltigter Luft, der stille Morgen der Magd nach dem abendlichen Besuch beim Grafen, der doch so unbeschwert gewesen war, als er ihr den Docht des Lebens einführte.
Das also ist (war) das Leben, denkt der Mann im Rollstuhl, und der Rollstuhl ist irgendwo. Ich befinde mich, die tastenden Hände bestätigen dies, in einer Lache. Und lache! Freue mich am Wortwitz und: Was haben wir gelacht und gesungen und getanzt (letzteres schon lange, lange her) (ersteres auch).

Jemand (die Putzfrau) wuchtet Stühle auf Tische um Platz zu schaffen. Ich wusste nicht, dass die Putzfrau raucht. Und schlendernd und den Feudel schwingend ein Lied zur Arbeit summt.

»I've roamed and rambled and I've followed my footsteps
To the sparkling sands of her diamond deserts
And all around me a voice was sounding
This cell was made for you and me ...«

Die knorrige, nikotingestärkte Stimme ist nicht wirklich bedrohlich und dennoch. Der Mann in der Lache fasst mit schmerzenden Händen nach hinten und um sich herum. Der Schmerz ist nur das Empfinden von fehl am Platze zu sein. Je näher sie kommt, desto mehr wird mir bewusst, dass DAS HIER meine eigene Zelle ist. Keine Kneipe, kein Fitnessstudio, es ist nur die Haut, die mich umschließt und derer ich, nein: und der ich überdrüssig geworden bin. Die Haut, die ich nicht abstreife, sondern die mich ausscheißt wie ein Verdautes. Tatsächlich liegt die Haut schon neben mir, und die Lache ist ein Teil meines Restkörpers. Der Feudel schwingt auf Beinlänge entfernt vorüber - schon bald wird sie, die Putzfrau, den Tumor, der ich bin, entfernen, ihn aufwischen und mit dem Wischwasser ins Klo spülen.

Meine Braut Haut liegt wie feuchtes Leder auf dem heißen Ofen, der mein Chopper war. Ich rolle sie zusammen und sammle auch vom Eisen und vom Sitzpolster alles auf und insbesondere den ganzen Schlupfsack, der ist die halbe Miete nämlich, und zusammengewickelt wuchte ich alles auf den Tisch, unter dem ich lag, ziehe mich hautlosen Kerl, das wunde Fleisch der Ellbogen auf die Kante gestützt, nach oben, Bauchfleisch auf Holz und zersprungenem Glas, bis ich obenauf zum Liegen komme, kaum beachtet von der, die ich liebe.

Auf dem Boden nur noch Reste des Rollstuhls, als solche nicht mehr identifizierbar. Alles, was ich brauche, habe ich hier auf dem Tisch. Das rohe Fleisch, das ich bin, inklusive. Ich nehme meine Haut und reiße sie in rosig gelbe Fetzen, ebenso den Schlupfsack, das Sitzpolster, die Gurte. Erst dann bemerke ich bei einem Griff nach hinten meine Inkontinenz. Ich muss, mehr als jeder andere, der das von sich sagt: Ich muss hilflos mitan... sehen?, ...fühlen?, ...riechen?, wie ein fester, beinahe gummiartiger Klumpen meinen Darm verlässt, ein Klumpen, den ich nicht ausscheiße, der vielmehr mich abstreift, als reiche es nicht, wenn mich das Äußere verlässt, es zieht sich auch mein Innerstes hinaus aus mir. WAS BLEIBT?

Ich umfasse DAS mit der Faust, und das ist fest wie der Knüppel des Machobullen. Ich kann daran ziehen, kann es aus mir herausziehen: ein langer, nicht enden wollender Tentakel. Meter um Meter ziehe ich das aus meinem Arsch, bis es meinen ganzen Restkörper wie eine schwarze Schlange bedeckt. Bis es mir zuviel wird und ich das Ding mit einem Ruck abreiße von dem was folgt.

Man sieht mich die Schlange in die Höhe halten, hin zur Putzfrau, die ein Gesicht macht. Und dann gelingt es dem Mann, sich irgendwie aufzurichten und der Putzfrau den Feudel aus der Hand zu nehmen und mit dem Feudel die Spitze der Schlange wie einen Pfropf unter die Decke zu drücken. Neben die hochgeworfenen, klebengebliebenen Teebeutel und Kaugummis.

»Danke ...«, sagt er zu ihr, gibt ihr den Feudel zurück und fühlt erneut an seinem After. Aus dem quillt jetzt ein unermüdlicher Rinnsaal klebrigen Schleims. Ein dünner, zäher Faden aus Wasser, Stärke, Eiweiß und Fasern in mir vergessener Speisereste. Mit dem Schleim verwebt er seine Mitbringsel rund um das hängende Ende der schwarzen Schlange zu einem kunstvollen, wie eine Korbschaukel baumelnden Kokon. Meine externe, um Kunstleder und Schaumstoff verstärkte Haut wird von meinen kantinenfraßhaltigen Fäkalien zusammengehalten. Der Tumor, der verbleibt (ich), ein blutroter Klumpen aus Fleisch und Draht, schwingt sich in die Öffnung hinein, kauert sich in das Enge, betrachtet den Leser aus dem Schatten der Metamorphose heraus wie ein mumifizierter Mayakönig.

Nach Stunden reglosen Verharrens und Starrens, ein Spiel, das die Putzfrau nur zu gerne mitspielt, derweil sie leise Radio hört, zieht der Mann von innen am Seil. Wodurch sich sein Ei Zentimeter um Zentimeter nach oben schiebt. Ruckweise greift er nach, zerrt die Schlange durch das Oberloch des Kokons hinein und sich mit Ei hoch, keucht, wobei seine Stimmbänder auf eine Art vibrieren, wie man es noch nie gehört hat: kehlig, guttural, ein klangvolles Schnarren in beinahe melodischen Obertönen.

Noch immer suppen ihm dicke, inzwischen weiße Spinnenfäden aus dem Arsch. Und damit, als dann das Ei unter der Decke hängt, webt der Mann die verbliebene Öffnung zu. Er verklebt Scherben, Kippen, alte Taschentücher, Bierdeckel, Kronkorken und Fusel unbekannter Herkunft zu einem erdigen Brei.

Der von irgendwo eindringende Lichtkegel des Morgens oder einer möglicherweise künstlichen Sonne lässt das Ei unten strahlen und nach oben lange Schatten auf das gewaltige Gewölbe der Todeszelle werfen.

Als die Öffnung nur noch handtellergroß ist, schaut der ehem. Mann im Rollstuhl ein letztes Mal zum Leser (Putzfrau) hinab. Die Schattenkante bedeckt den Mund und du siehst nur die dunklen Umrisse von Augen, die die Deinen sein könnten. Der Blick ist der eines Insektes, das einen fremden Beobachter misstrauisch aus dem Nest heraus anstarrt. Der Kokon baumelt sanft am Strang. An seiner äußeren Hülle hängen, nur lose angeheftet, feine Bahnen, wie die seidige Rinde eines Riesenpilzes.

Dann fädelt der Mann von innen weiter, steckt winzige Teilchen wie z.B. einzelne Schrauben, Klammern, Nieten usw. immer enger zusammen, bis das Loch verschlossen ist. Du, Leser (Putzfrau), hörst einen letzten dumpfen Klang. Das schwebende Ei wackelt unmerklich, dann ist es still.

 

 

>>> Kommentar der Putzfrau: »This cell is my cell!«