20110910


Geschichten aus der Todeszelle

Ich fasse es nicht! Das ist nicht zu fassen! WO IST SIE DENN HIN?
»ROSEA!«, ruft der Mann im Rollstuhl, der ganz allein vor der Gefängnismauer sitzt, vor einer unscheinbaren Tür aus Stahl, und der sich fragt, wie Rosea so mir nichts dir nichts in diesem tosenden Verkehr verschwinden konnte. Das ist doch viel zu gefährlich! Aber sie ist einfach über die Straße, die Bundesstraße, und welches war überhaupt unser Haus? Die sehen alle gleich aus. Schäbige Gründerzeitbuden, der Stuck ab oder kaputt, dazwischen so 60er-Jahre-Dinger, und selbst die bunt angemalten Fassaden sind voller schwarzer Schlieren. Also noch mal: Wo wohnen wir? Das kann doch nicht so schwer sein. Das ist doch das Haus gegenüber! Direkt gegenüber oder das linke oder rechte daneben, höchsten zwei daneben oder so. Das mit dem schönsten Garten (den habe ich selber angelegt!), aber die Gärten gehen nach hinten raus. Zur Straßenseite nichts, nicht mal ein Vorgarten. Und man käme ja sowieso nicht rüber, bei dem Verkehr.
Neben der Tür eine Klingel. Der Mann im Rollstuhl stemmt sich hoch, drückt noch mal auf den Knopf, hat das denn keiner gehört? Rosea hat doch STURM GELÄUTET!
Endlich Menschen. Aber dann die Enttäuschung: Nur Einheimische. Im richtigen Alter, um zu nerven. Vier Jungs, fünf, mit gelschwarzen Haaren und großer Fresse, einer rülpst dem Gelähmten (ja bin ich jetzt wieder gelähmt???) ins Gesicht, und als ich halbherzig was sage, nur so ein »Eeyh...!«, sofort ein ganzer Schwall Beschimpfungen in einer unmöglichen Sprache. Ein Tritt ins Kreuz, durch die Rückenlehne durch (tut das weh!), der Gelähmte (also doch!) fällt vornüber, wäre beinahe vornüber aus dem Stuhl gefallen, kann sich soeben mit den Ellbogen abfangen. Lautes kehliges Adoleszentenlachen, und eine volle Bierflasche zerspritzt an der Gefängnismauer. Dann hört man sie noch ewig, wie sie Richtung Innenstadt ziehen.
Und dann Ruhe. Straßenlärmruhe.
...
Ja soll ich die ganze Nacht hier sitzen?
...
Ich habe Hunger. Und Durst. Und muss mal. Jetzt ein Bier! Im Aufenthaltsraum. Mit Adorno. Dem Gnom. Und dem Friedrich.
...
Jetzt fängt es auch noch an zu regnen. Nur so ein Fisselregen, aber trotzdem. Ich zerre an den Rädern, rolle mich langsam weg von dieser Stelle. Nicht zum Strand zurück, bloß das nicht, die andere Richtung, den Halbstarken hinterher, egal. Man sieht ein weißes U leuchten, die U-Bahn, das ist überhaupt die Idee. Da ist es wenigstens trocken.
Aber der Mann kommt nicht weit mit seinem kaputten Rollstuhl. Wieder fällt das Rad ab, so plötzlich, dass der Mann mal wieder aus dem Sitz fällt, mit dem Kinn aufs Pflaster aufschlägt, und das Rad ist das einzige, das weiterrollt. Der Krankenfahrstuhl in unmöglicher Pose, liegt schräg schief auf der Radnabe auf. Eine schöne Scheiße ist das ... ja bleibt denn das Rad nicht langsam mal liegen? Es geht doch, wenn überhaupt, dann bergauf. Rad rollt und rollt. Endlich, wie ein auslaufender Kreisel fällt es in sich zusammen. Hübsch. Wie kann man das jetzt hübsch finden? Mein Kinn brennt wie Otze. Und das sind jetzt mindestens fünfzig Meter zwischen mir und dem Rad.
Rosea. Der Mann möchte nach Rosea rufen. Aber du Dummerchen, Rosea ist doch schon lange tot. Du selbst hast sie umgebracht! Wegen dem anderen, diesem Scheißkerl, diesem peroxidblonden, solariumbraunen Weißmerzedesfahrer. So einem will man auf die Motorhaube kacken! Wieso liege ich hier in dieser Scheiße? Wieso sieht mich denn hier keiner? Das ist doch zum ...
Am Ende lässt einen der liebe Gott ja doch nicht allein. In diesem Fall schickt er einen Affen. Einen Pavian, den, den ich im Spiegel gesehen habe, in Roseas Spiegel (aber das war doch auch mein Spiegel!). Oder ein Berberaffe, ich kenn mich da nicht aus. Jedenfalls kommt da dieser Affe und bringt mir das vermaledeite Rad. Ist das nicht irre? Ich muss total dehydriert sein, der Affe bringt nicht nur das Rad, er wuchtet sogar den Rollstuhl hoch und schiebt das Rad über die Nabe, und endlich mal einer, der was davon versteht. Die Mutter ist gar nicht abgefallen, das ist so ein komischer Mechanismus, und schließlich ist der Rollstuhl wieder heile. (Nicht wirklich heile, ein paar Speichen fehlen, da ist Strandsand im Getriebe - und das bei so einem Unstrand!, das Rad hat mindestens zwei Achten und die Rückenlehen ist von dem Tritt in der Mitte durchgerissen. Dieser Scheißkerl)

>>> Kommentar des Berberaffen:
»Fragt mich nicht, wie ich hierher komme. Ob aus San Phra Kan
oder den Tempelstätten in Tibet, ich bin jetzt hier, in der Stadt am Meer, ein Umstand, der meinem Affenwesen übrigens viel mehr entgegenkommt, als die vielen Städte meiner zentralasiatischen Herkunft.
Man hat mich eingefangen, verschleppt, und nur ein Zufall hat mir die Freiheit beschert. Womit wir beim Thema wären. Mein Verhältnis zum Homo sapiens, zum aufrecht gehenden Affen, zum vom Ehrgeiz getriebenen Affen, zum von der Angst zerfressenen Affen, zum hässlichen Affen.
Soweit.
Ich sitze den ganzen Tag am Brunnen, auf dem Markt, trinke Brunnenwasser und esse das, was die Aufrechtgeher wegwerfen. Ich kraule mir den Bauch, und einsam bin ich auch nicht. Ein paar der hässlichen Affen haben es scheinbar satt. Haben ihre Artgenossen satt. Sitzen wie ich hier am Brunnen und haben sich ein Fell wachsen lassen. Und da wo ihre naturgegebene Missbildung ein Fell nicht zulässt, haben sie Lumpen drum gewickelt, die sie nicht mehr ausziehen. Als Fellersatz.
Nur diese bemerken mich überhaupt. Das Gros der hässlichen Aufrechtgeher ignoriert mich. Ich glaube: ignoriert UNS. Für die sind WIR ein und dasselbe: Affen. Das ist hier ein Schimpfwort, man glaubt es nicht. Zerlauste Affen! Als wären Läuse was Ekliges. Ich sitze gerne bei meiner Freundin - ich habe mir von denen eine Freundin genommen -, ein gut genährtes Weibchen, überall Speck und Haarbüschel aus Ohren und Nase, die Haut voller Höhen und Tiefen und Farben, zumeist rosig oder rot, aber auch viel Braun, dunkelbraun, sogar schwarz und gelb und grün. Auf dem Kopf ein dichtes Fell, das ich regelmäßig entlause, was ihr wiederum gefällt, »tierisch!« sagt sie, ein kleines Vorspiel, bevor ich über sie steige. Zu schade, dass die Natur sie nicht trächtig macht, so sehr ich mich auch an ihr verlustiere. Aber ich habe sie dazu gebracht, auch MICH zu lausen. Und es gefällt mir, obwohl ihren Fingernägeln manchmal die äffische Festigkeit fehlt, aber ihre fleischigen Finger in meinem Fell, ihr Schmatzen, das macht mich schnurren oder gurren, als vereinte ich alle Tiere in mir. Und immer wieder schiebt sie mir einen Fang zwischen die Zähne.
Schau dir Deine Artgenossen an, sage ich dann zu ihr, dieses unbestimmte, nur scheinbar zielstrebige, in Wahrheit jedoch rein affektierte, opportunistische Getue. Dieses Naserümpfen, nicht schnaufen, nein, dieses die Nase erheben, als wären sie damit noch aufrechter als ohnehin, und dann wegschauen und keinen ranlassen und überall Textilien und flüssige Substanzen auf dem Ganzkörperhaarausfall. Und immer auch so ein unstillbarer Appetit aufeinander. Sieh nur dort, an der Fischbude, ein Männchen, Bluejeans und Hemd, hinter ihm ein Weibchen, hübsche Mähne, der Rest ein ausgemergeltes Gestell, hungrig, beide hungrig, stehen an - man sagt ANSTEHEN! - und wenn er sie anschaut, schaut sie weg, nein andersherum, wenn sie wegschaut, schaut er hin. Schaut sie aber zurück, schaut er weg, und sie auch sofort. Aber nur, um dann ihrerseits wieder hinzuschauen. Schaut er aber dann doch, dann schaut sie wieder weg. Mehr ist nicht als dieses halbgeile Glotzen. Denn, das rieche ich, auf sie wartet ein anderes Männchen, das seinen Geruch nicht ertragen würde, und auf ihn ein anderes Weibchen.
Und der dort, ein älterer Bulle, ein erbärmlicher Bulle, aufrecht? Wohl kaum, hat die Schultern eingezogen, als wollte er am liebsten wieder zurück - oder zu uns - in die gesunde Affenhaltung, ist aber zu feige, seinem natürlichen Wunsch zu folgen. So steht er da, zwischen aufrechtem und echtem Affen, todunglücklich, jammervoller Blick, du wärst in meiner Horde der Unterste.
Ich spucke auf ihn, er schaut sich um sieht weder die Spucke noch den, der ihn bespuckt hat. Ich kenne ihn, ich sehe ihn abends in seinem Büro, das ist in diesem Eckhaus, erster Stock, und dort, nicht lachen, dort versucht er, seinen Computer zu schwängern. Er weiß nicht mal wie, obwohl doch der Computer alles tut, um ihm zu helfen. Doch der Idiot sitzt nur davor, mit glasigen Augen, und schießt jedes Mal ins Leere.
Ja überhaupt, diese Computer. Es scheint, als würde der Aufrechtgeher, dieser armselige Nebenzweig der Evolution, allmählich aussterben, vielmehr einem Nachfolger Platz machen, der ganz und gar auf Beine und Arme verzichtet, nur noch summend und flimmernd da hockt und - man merkt es kaum - einen nach dem anderen von ihnen verschlingt. Schon bald wird keiner mehr übrig sein, nur meine kleine Horde hier am Brunnen, deren König ich bin.«