20110810


Geschichten aus der Todeszelle

Man landet vor den Mauern der Justizvollzugsanstalt. Sitzt dort im Dreck, der Rollstuhl kaputt, der Friedrich haut ab oder wer ist das, der da rennt?
Nur der tote Säugling bleibt.

Man sitzt gar nicht, man liegt. Und alles geht so schnell, dass ich kaum mitschreiben kann. Am Ende (gibt es ein Ende?), wenn das Herzschlagen aufhört, wenn der Atem nicht mehr keucht, dann wird einem die Situation GEWAHR: Mann liegt auf dem Rücken, hintern einem das Bollwerk Knast, mit Mauern, die sich geradeaus (also oben) in einen fast schwarzen, wolkenverhangenen Himmel schneiden. Schaue ich links oder rechts, ein schmaler Gehweg, Gehwegplatten, wie man sie kennt, eine Leuchte, eine sogenannte Peitsche, eine Straßenleuchte, die sich über die Fahrbahn (unten) beugt. Fahrbahn, unendlich breit, zu meinen irgendwas. Füßen. Das kaputte Eisenbett liegt da wie ein umgestoßener Einkaufswagen. Der Rollstuhl. Hat was abgekriegt.
Man liegt also da. Wartet. Einmal ein Auto, mehr zu hören als zu sehen. Ja meinst du, der hält an? Vergiss es.
Es ist so trist, so trostlos, dass man wieder rein möchte, obwohl die Straße offenbar zum Strand führt. Gegenüber ein altes, verbeultes Schild »Playa«, und Wohnhäuser.
So vergeht ein undefinierbare UNzeit.
...
Man robbt dann doch hin, flickt den Stuhl, dessen Rad ab ist, irgendwie händisch zusammen, steigt ein in dieses kleines Glück des eigenen Stuhls, sitzt da, die Sonne eines südeuropäischen Landes geht auf. Verkehr, viel Verkehr, man kommt nicht mal über die Straße. Der tote Säugling. Man sitzt und bettelt, und einmal kommt einer vorbei, so fremd, dass man sich nicht mal das Gesicht merken kann, wie der aussieht, er geht einfach vorbei und das war's.
Das Meer ist so nah, dass man den Tang riecht. Mein Fuß ist ganz komisch umgeknickt, abgebrochen, der Knochen, aber ein Gelähmter kennt keinen Schmerz.
Hunger und Durst dagegen schon. Ich will wieder da rein. Dieser scheiß Fuß. Noch eine Bewegung, das Rad fällt wieder ab, man plumpst zurück auf das Trottoir, das nur einsfünfzig breit ist, die Straße zig Meter.
Man beobachtet - wieder im Dreck liegend - den Lauf der Sonne, die in diesen südlichen Gefilden sehr hoch steht. Portugal, Sizilien, Türkei. Zum Beispiel Istanbul. Aber es kommt keiner, der einem das sagt. Gegenüber, ja da, da sind die Menschen, mal im Fenster, mal verlässt jemand ein Haus. Und zu den STOSSZEITEN Auto an Auto, vor allem LKWs, Dieselqualm, Kohlenmonoxid, das einem die Luft nimmt. Und der Kadaver fängt das Stinken an, dass einem in wiederkehrenden Schüben schlecht wird.
Im Ellbogen ein Pflaster, zwei Nadeln und zwei abgerissene Schlauchenden. Verrenkt man den Kopf, sind da Scherben. Die Flüssigkeiten längst vertrocknet. Whiskey und Wodka. Man könnte lachen, so bescheuert ist das, hier zu liegen, neben einem kaputten Rollstuhl, wie besoffen ist das, neben den Trockenflecken von verdunstetem Schnaps zu liegen. Die Sonne frisst sich durch meine Augäpfel.
...
Es ist schon Nachmittag, als ich das erste Mal denke: »Draußen!«
Was ist schlimmer? Fliegen oder Ameisen? Beide Gattungen nehmen diesen lausigen Körper in Besitz, lausig, jawohl, auch die sind vertreten. Da ist was mit dem Fuß, nicht hinschauen, ein El Dorado für gewisse Lebensformen, Panta rhei, man zerfließt und geht ein in den Fluss der Zeit, ABER JETZT TUT VERDAMMT NOCH MAL SOGAR DER LAHME KAPUTTE FUSS WEH!!!
Ein kurzer hysterischer Anfall, viel Strampeln, Zappeln, das abbe Rollstuhlrad liegt auf einem, dem gesunden (haha), Bein, und überall diese Riesenkotzfliegen, sogar ins Gesicht kommen die geflogen, und Ameisen jagen im wirren Haar nach Läusen, oder reiten drauf, Sprungreiten, während andere an den Augenwinkeln nach Schweißtränen anstehen.
Außerdem unkontrolliertes Sabbern, wertvolle Flüssigkeit, die den dörrenden Körper verlässt, man muss alles wieder einsammeln, mit der Lederzunge, obwohl der Magen sticht und sich auf links dreht, Ameisen essen und Tränen von den schmutzigen Fingern lecken, rein raus rein raus.
Am schönsten die Momente der Ruhe nach so einem Anfall. Wie schön ein sich beruhigender Bauch! Und in einer LKW-Pause schmeckt sogar die Luft ganz passabel, beinahe frisch, das macht das Meer, hinter all dem Dieselrußtanggeschmack etwas Frisches. Augen zu und dösen.
...
In der nächsten Nacht eine Frau, nennt den Mann »Armer!«, besorgt, »da bist du ja da bist du ja, jetzt aber komm rein!« usw., Rosea? Eine Frau mit vielen Armen, die überall anpacken, die dich aufrichten, irgendwas mit dir anstellen, Rosea? Bist du's, Rosea? Sie stößt angewidert diesen muffig riechenden Klumpen in den Straßengraben, und du denkst: unser Kind.


Kommentar der Putzfrau: »So ist das. Zelle voll, Zelle leer, sauber machen für den Nächsten. Kein Gedanke mehr an DEN.«