20110710


Geschichten aus der Todeszelle

»Wärter ...!«
Ich will und kann es nicht lassen. Meine Todeszelle, what for Helle. Der Friedrich hat sich auf mein Bett gesetzt. Mein Himmelbett. Kein Himmelbett, kein Baldachin, nur eine OBERE ETAGE, ein Oberbett, Etagenbett, in dem der Friedrich schläft, ich komm da nicht hoch. Zu schlafen hat, ab jetzt, der tote Mann, der mich anstiert, »meine Eier!« sagt und sich kaum beruhigen kann.

»Friedrich!«, sagt der Rollstuhlmann (ich, ICH!), »wie viel Zeit haben wir noch? Wann fällt das Beil?«
»Geh doch kacken ...«
»Friedrich, Bruder ...«, flehe ich.
»Bruder, Bruder ...«, wie ein äffzender Affe.
...
Wir schweigen. Schauen wieder aufs Meer.
(Manchmal birgt die engste Enge die tiefste Weite)
Gemeinsam, vielleicht auch nicht gemeinsam. Friedrich ist verärgert. Nicht nur wegen dem Eierschlag. Obwohl ich ihn nicht ansehe, und obwohl er nichts sagt, fühle ich seinen Ärger. Wie früher. Er liegt in der Luft, zwischen uns.
»Friedrich?«
»Hm ...«
»Friedrich!«
»Ja ja«, brummt der Friedrich, »warum eigent...?«
»Nein!«, unterbrach ich ihn, »frag DU nicht warum.«
»Aber ...«
»Ich habe meine Gründe!«
Ich will LEBEN, aber das denke ich nur.
»Und die willst du nicht mal deinem toten Bruder verraten?«
Er meint Knastbruder, ab Knast ist man nämlich Familie. Ich beuge mich vor, bis die Brust auf den Knien liegt, ein Ellbogen nach hinten, als Anker am Griff, die andere Hand sucht im Sand nach dem Zweig. Nach Friedrichs Zweig. Nach dem Zweig, mit dem ihm die Nymphe die Eier zertrümmert hat. (Am Meer hat alles eine andere Dimension, Leser) Findet ihn aber nicht, oder es sind zu viele, zu ähnliche Zweige da. Schließlich nehme ich irgendeinen Zweig und versuche ihn zu zerreißen, was natürlich nicht geht. Stattdessen reibe ich mir den Zeigefinger blutig.
»Aua!«
Friedrich nimmt meine Hand. Mit seiner zärtlichen. Schon wieder. Schon wieder?
»Warum ist deine Hand nicht kalt?« will ich wissen.
»Warum sollte sie?«
»Tote Hände SIND kalt!«
»Jawoll!« Friedrich salutiert.
»Oder etwa nicht?«
»Ja,  sind sie denn kalt?«
»Nein, sie sind warm wie bei einem Lebenden. Viel wärmer als Vaters ...«
Ich beiße mir auf die Lippen.
»Als Papas Hände?« beendet er meinen Satz. Und machte eine Frage draus.
»Vater ist viel ... viel ... toter als du!«
Friedrich sagt nichts.
Dafür ich: »Vater ... Papa ... immer, wenn Papa mich ... anfasst, dann ...«
»Was meinst du mit 'anfasst'?«
»Ach ...«, ich werfe den zerfaserten, blutigen Zweig weg, »du weißt doch, wie er ist ...«
»Ja ...«
»Ja?«
»Ja!«
»Sprichst du mit Papa?«
Friedrich schweigt, dann sieht er mich an. Wie immer, Friedrichs Augen sind wie immer. Lebendig.
»Sprichst DU mit ihm?« (ich)
»Ja!«
»Nur mit ihm?«
»Und mit dir!«
»Und mit sonst ... keinem?«
»Nein!«
»Friedrich! Verdammt! Warum ...«
»Weil nur Papa versteht, was ich getan habe!«
Ich werfe mich impulsiv gegen ihn, denke kein bisschen darüber nach, was ich tu, bin nur noch wütend, wütend, wütend. Ich schnelle aus meinem Rollstuhl hervor und werfe ihn um. Ich werfe den toten Friedrich um, sitze auf seiner Brust (die Beine irgendwie, irgendwo) und schlage auf ihn ein, auf seine Brust, und dann auf sein Gesicht, das er nur unzureichend - und irgendwie kraftlos, oder aber unwillig - schützt. Ich ohrfeige ihn, links, rechts, links, rechts, und Friedrich sieht mich an. Sieht mich einfach nur an.
Es tut ihm scheinbar überhaupt nicht weh.
Kein Wunder. Friedrich - mein Bruder - ist tot.
Ich höre auf, keuche, habe nun nicht mehr nur warme, sondern ganz heiße Hände, und auf seinen Wangen zeichnen sich Spuren ab. Blutige Hände auf einem Totengesicht. Mein Blut.
Friedrich grinst.
»Zufrieden?«
»Grrr ...«, mache ich.
»Ausgetobt, du Narzisst?«
»Grrr! Ich beiß dich gleich, du ... du ... Zombie!«
Er lacht. Lacht schallend, lacht so laut, dass man es bis weit aufs Meer hören muss, das es sogar die Robben hören müssten. Ich glaube, er wird mich gleich durchkitzeln, wie früher.
»Weißt du eigentlich ...«, er prustet, »weißt du eigentlich, mein lieber Möchtegernbruder, dass es kein Leben nach dem Tod gibt?«
Kein ...? Mein Herz.
»Da ist nichts. Gar nichts. Jedenfalls nichts, was wir immer für eine Seele oder so gehalten haben.«
»Aber du ... Friedrich!«
»Da ist nichts als die Erinnerung. Als die Spuren, die wir hinterlassen haben. Nichts als das, was wir erschaffen haben, wir Toten.«
»Und ...«, ich habe - statt Kitzelwunsch - einen Klos in der Kehle. Wieso sagt er so was und beweist mir das Gegenteil?
»Meine Seele ist das, was von mir in deinem Herzen übrig geblieben ist ...«
Das hast du schön gesagt, denke ich, sage es aber nicht.
»Friedrich, ich will nicht ... nicht über so was reden ...«
»Aber mehr ist nicht! Es gibt nur das! DAS ist meine Seele, und das, was du hinterlässt, ist deine, schon jetzt, wo du noch lebst ...«
»In dir?«
Er lacht, noch einmal, aber ANDERS, er schüttelt den Kopf, ohne »Nein« zu sagen. Stattdessen sagt er: »In mir, in der, deren Leben du auf dem Gewissen hast ...«
»In Rosea?«
Friedrich verzieht den Mund.
»In Papa?« frage ich.
Friedrich sagt nichts.
»Papa hinterlässt nicht viel ...?«
Er schüttelt wieder den Kopf. Schweigt.
»Geld«, sage ich, »er wird uns viel ...«
»Papa hat keine Seele«, sagt Friedrich, »DARUM spreche ich mit ihm.«
»Aber du ... aber ich dachte, du sagtest doch, keiner hat ...«
»Keiner hat das, was die Lebenden für die Seele halten, aber Papa hat nicht einmal das, was sie für uns Tote bedeutet.«
»Er ... hinterlässt ... nichts?«
»Papa hinterlässt keinen warmen Abdruck auf der Erde. Wenn Papa stirbt, wird das sein wie nie gewesen ...«
Ich steige von ihm hinunter (steige, steige, das ist ein würdeloses Krabbeln und Kriechen!), hieve den Körper, der ich bin, wieder mit eigener Hände Kraft in den Rollstuhl, klopfe mir den Sand, ach Sand, scheiße Sand, die BETTFEDERN von der Kleidung. Auch Friedrich steht auf. Man meint, er stößt mit dem Kopf an die Zellendecke und mit dem Arm vor die Wand. So ein kleines Bett. So eng alles. Er kitzelte mich nicht. Leider. Wo doch seine toten Hände noch so warm sind. Wärmer als die von Papa.

 


Kommentar der Putzfrau: »Der Sensenmann kommt näher Schritt um Schritt, ein jeder hat Termin.«