20110430

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Geschichten aus der Todeszelle

>>> Kommentar der Putzfrau: »bisse einmal nich' da ...!«
>>> Kommentar der Richterin: »Einmal? Du hast schon zweimal geschwänzt!«
>>> Kommentar der Putzfrau: »Wer sind Sie denn, junge Frau?«


»Da gibt's so ein Spektrum an Leuten, so Schicksale und so ... Vielfalt, weis'se?« Jetzt, wo der Friedrich DRÜBEN ist, quatscht mich der Gnom voll.
»Die Mathematik des Glückunglücks«, sagt er und

hält sich für einen großen Denker, »das Leben eine mathematische Funktion, mal plus, mal minus, die Grundlinie nie berührend, du bist gut drauf oder schlecht drauf, mal drüber, mal drunter und nur am Anfang und am Ende Null, X, F von X Index Null gleich Null, und F von X Index N gleich Null. N steht für eNde. Oder LebeNsläNge ...«

»Oder 'lebenslänglich'«, werfe ich ein.
Der Gnom bleibt unbeirrbar: »Alle Phasen größer Null und alle Phasen kleiner Null ergeben in der Summe Null. Null! Nichts, Nothing! Life is nothing ...«
Nothing bad?, denke ich.
»... demgemäß ... die Summe aller Zustände ein ewiges, ausgeglichenes Balance-Om!« Der Gnom strahlt und zeigt Zähne, die man niemandem zeigen darf.

»Und der Holocaust?«, frage ich. Des Gnoms Lachen erstarrt zur Fratze. Alles Lüge also, denke ich. Nein, nicht der Holocaust, ich meine dieses dämliche Gequatsche vom Ewigen.
»Hast du mal ein Huhn geschlachtet?«, frage ich weiter.
»Ein Huhn?«
»Oder ein Kaninchen ... und die Innereien den Hühnern gegeben ...«
Der Gnom ist endlich mal still.

»Das mit dem Schlachten«, ich stürze mich regelrecht in diese Redepause, »das geht ganz schnell. Zack, mit dem stumpfen Ende der Axt aufs Genick ...«
»Hast du's vorher lieb gehabt?!«
»Quatsch! Unsere Kaninchen hatten nicht mal Namen. Wer keinen Namen hat, den hat auch keiner lieb.«
Der Gnom runzelt die Stirn. Schaut auf den Kaffeefleck im Teppich.
»Hast du hier ...?«, fragt er halb zweifelnd, halb bewundernd.
»Ach was, das ist nur Kaffee, als ich die Schwester ...«
Der Gnom grinst und sagt, ich solle nicht rumschwätzen.

»Kaninchen, das war früher ...«, sagt der Mann im Rollstuhl und jetzt sieht er aus wie ein uralter Landwirt, den die Zeit vergessen hat.
»Und du hast sie ...?« Der Gnom ist auch ein bisschen stolz auf mich.
»Ja doch, ich habe früher die Kaninchen geschlachtet. Das war mein Job. Jeder hatte so seinen Job bei uns. Meiner war es, dafür zu sorgen, dass namenlose Kaninchen nie einen Namen bekamen. Bevor je ein Kind eines sah, zack, Kopf ab! Und ... es hat mir Spaß gemacht ...«
Da ist plötzlich etwas in den Augen des Mannes, etwas, das einem sensiblen Mitgeschöpf Angst einjagen könnte.

»Am Schuppen hatte ich zwei Nägel in die Tür geschlagen, total verrostet, aber egal, links einen Kaninchenfuß drübergestülpt, rechts den anderen, einfach durch die Haut durch, dass es 'Ratsch!' machte, dass es da hing, an der Holzwand, kopfüber, nur ohne Kopf halt, und dann mit einem scharfen Messer das Fell eingeschlitzt und wie ein Pullöverchen ausgezogen. Nacktes Kaninchen ohne Kopf. Bauch aufschlitzen und flutsch, fällt dir ein Darmgewimmel entgegen - du brauchst einen ganzen Eimer, so viel Darm, und du fragst dich, wie so was in so einen kleinen Bauch passt ...«

Der Gnom ist so ein Sensibler, aber er ist auch stark, stark im Geiste, und er ringt den Impuls aufkommender Angst mit einem Lachen nieder.
»So ein Kaninchen ist immer bei Null«, fahre ich fort, »es frisst und verdaut, und wenn sein unendlich langer Darm im Hühnerstall liegt, außen Haut, innen Kacke, so ein glitschiges graues, sich windendes Gewürm, dem die Schlachtung völlig egal war, es macht einfach weiter, auf der Nulllinie, es verdaut dieses Futter und schlängelt sich gleichgültig durch die aggressiv an ihm zerrenden Hühner. Die würden sich für so ein Stück Kaninchendarm die Augen aushacken, so gut ist das, wenn man Scheiße fressen darf.«

Der Gnom steckt sich den gekrümmten Zeigefinger in den Mund und beißt ins Gelenk. Wie ein Baby nuckelt er daran. Schaut dann wieder auf den großen dunklen Fleck, der tatsächlich wie ein Blutfleck aussieht. Und in gewisser Weise ist es ja Blut. Das Blut ausgebeuteter venezuelischer Indios, das Blut der Erde, das Blut der jungfräulichen Schwester, die ich bei Nacht, als die Putzfrau mit der Priesterin schlief, genommen habe wie ein Mann ...

»Übrigens sagt der Gnom und betrachtet den speichelnassen Finger, »als dich die Pfaffenbraut in den Keller geführt hat, das war alles Attrappe gewesen ...«
»WAS?!«
»... nur dass du's weißt ...«

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Kommentar der Putzfrau: »Arschloch!«