20110420


Geschichten aus der Todeszelle

Der Mann sitzt wieder in seiner Zelle. »Todeszelle« sagt er. Er flüstert, damit es die Schwester nicht hört. Die schüttelt das Thermometer und fragt uns, wie es geht.
»Uns?«, frage ich zurück.
Sie lächelt. Mildtätiges Grübchen, als wolle sie mir über den Kopf streicheln und »Ei!« machen.
»Bitte ...«, sagt sie stattdessen und hält das Ding dem unendlich einsamen Wolfsmann hin,

der auch schon weiß, dass er es sich in die Achselhöhle stecken muss.
Während sie rumkramt, und während das Quecksilber heimlich aufsteigt, sagt er wieder: »Todeszelle«.
»Herr ...« sie nennt meinen Namen. Ich habe keinen Namen antworte ich, antworte aber nicht wirklich. Ich schaue auf die Antisuizid-Fenstergitter und in den Parkausschnitt dahinter.
TODESZELLE!
Das Thermometer piepst. Hat gar kein Quecksilber.
Die Schwester geht mir an die Wäsche. Ich kann auf ihren Busen sehen, ein Busen mit Schweißperlen, und ein Goldkettchen, so ein Mantafahrergoldkettchen, falls noch irgendwer weiß, was Mantafahrer sind.
Und das hier also eine Mantafahrerische, denkt der Mann im Rollstuhl und wäre jetzt selbst gerne ein Mantafahrer.
»37 - 6«, die Ische guckt streng und ist NICHT blond. Sie hat dunkelbraune Haare, zu einem Schwesternpferdeschwanz gebunden, und eine scharf geschnittene Bronzeskulptur statt Lippen.
Tartarenbraut, denkt der Mann (ich).
Auch die Augen im Mandelstil und Wangenknochen wie der Leibhaftige.
»Todeszelle«, sagt der Mann und hätte sich fast auf die Lippe gebissen. Nun ist es raus.
»Todeszelle?« fragt sie.
Schüttelt den Kopf (das Thermometer hat sie nie geschüttelt) und geht zur Tür.
»Sie müssen sich schonen. So ein Fieber ...«
Eine blödsinnige Handbewegung, nicht Winken und nicht Greifen, so lala und schon fällt die Kaffeetasse vom Fensterbrett. Scherbenklirren, dann ein sich schnell ausbreitender Wanderfleck im Velours.
Die Schwester fasst sich an ihren Mund, mit beiden Händen. Dabei berührt die Thermometerspitze die Unterlippe.
Ich küsse dich, denkt der Mann, meine linke Achsel hat dich jetzt geküsst.
Die Hände zittern neuerdings so. Er legt sie auf die Griffräder und rollt zurück, macht der Schwester schon Platz, bevor sie überhaupt auf die Idee kommt, die Scherben einzusammeln.
Dann betrachtet er ihren Rücken.
Ich liebe diesen Rücken und denke im selben Moment, ich kann unmöglich der Putzfrau untreu werden.
Ein weißer Kittel, Knöpfe hinten, über besagtem Rücken, »Rehrücken«, denkt der Mann im Rollstuhl, und dann denkt er »Kapernsoße« und dann an seine Metastasen. Und dass er diesen Raum nur tot verlassen wird. Und dass niemand diesen Raum verlassen wird, denn wenn man tot ist, ist man nicht mehr und kann ergo auch keine Räume mehr verlassen.
Es gibt nur diesen Raum, den ich NIEMALS verlassen werde, denkt er und denkt dann, dass er vermutlich nur Depressionen hat, oder Fieber, und dass das mit den Metastasen noch gar nicht erwiesen ist, nur so ein Verdacht, und wenn er mit seinem Antrag durchkommt, dann könnte er sehr wohl ...
All das denke ich, während die Schwester mit ihrem Rücken kleine weiße Porzellanscherben aufhebt.
Statt all das zu denken, sollte ich wenigstens die Knöpfe zählen, hier so vor mir auf Augenhöhe; oder irgendwas tun, damit sie hierbleibt.
Aber ich werde wieder nichts tun, ich habe noch nie was getan, diese Kaffeetassensache war das Beste, was ich je in dieser Hinsicht vollbracht habe, schon insofern heute ein guter Tag!
»Ich schicke Ihnen die Putzfrau!«, sagt die Schwester im Gehen.
Als ich noch Dschingis Khan war, denkt der Mann, hatte ich zehn von deiner Sorte.
Er zieht an den Greifrädern, dann rollt das Ungetüm los, gegen den Teppichflausch schiebt man sich zur Tür, bekommt auch die geöffnet und draußen, im Gang, wird's leichter. Linoleum.
Ich verlasse jetzt die Todeszelle, denkt der Mann, ich rolle jetzt hinaus, auf die Straße, keiner kann mich aufhalten, dieses Gefängnis ist ja nur ein Gefängnis im Kopf; aber (oder und?) schon in diesem Gefängnis habe ich Dinge erlebt, wie sie sich nie einer draußen vorstellen kann. Wo bleibt denn die Putzfrau?
Am Ende von Gang ein Holztisch, Ahornfurnier, Holzstühle, auch Ahornfurnier, und frische Blumen aus Plastik. Wie in einer griechischen Pommesbude.
Der Mann bewegt die Greifräder vor und zurück. Reifengummi auf Linoleum, das quietscht, und mit ein wenig Rhythmusgefühl würde daraus jetzt ein Ententanz.
Er wendet, wie man so ein Fahrzeug eben wendet, und kehrt in die Wohnung zurück.
»Todeszelle!« sagt er moderat laut und betrachtet die braune Insel im Beige.

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