20110410


»Das mit dem Totenaugenschließen ist übrigens mein Job!«, sagt meine PP (PP = Persönliche Priesterin) zum Friedrich, »schick den Jungen also nach Hause, Frauundkinder brauchen ihn mehr als du ... du ... du fauler Sack, du Weichei, du erbärmliches Stück Sch...«
Sie holt Luft, schweigt abrupt.
Friedrich schaut auf seine riesigen Hände.
Ich kann mit meinen mein Paket kaum heben. Mürrisch nimmt sie den Stapel entgegen und schlurft damit zu einem Schreibtisch, der mir vorher nicht aufgefallen war. Friedrich schiebt mich zu ihr, auf die ihr gegenüberliegende Seite des dunklen Mahagonimöbels, auf die BESUCHERSEITE.
Sie blättert. »Mhh... was ham'wa denn hier ... also ne, ne das geht ja gar nicht, was ham'wa denn DA geschrieben ...«, sie ist viel größer als ich, ragt regelrecht über dem zusammengesunkenen Rollstuhlmann hinaus, »... das soll ich glauben?, und wenn ich's täte, der Chef glaubt's nie, alles gelogen ... und hier, was hat der denn HIIIEEER angekreuzt, nein, NEIN! ... ich ... unverschämt, UNVERSCHÄMT!« Sie haut mit dem ganzen Papierbündel auf dem Tisch, haut noch mal und noch mal, mit jeder Silbe, »un - ver - schämt - un - ver - ...«, padauz - padauz - padauz - ...
»Na ja ...«, sagt sie dann und schaut mich an, »es geht ..., eigentlich nichts Gravierendes ... kann man so lassen, nur kleine Fehler, unwesentlich, vernachlässigbar, es wäre hier und da noch was zu ergänzen, aber im Großen und Ganzen eine SAUBERE SACHE!«
»Echt?«
Der Mann ist erleichtert, wie kann man so blöd sein?, aber er freut sich, es war ja auch viel Arbeit gewesen.
»Was?!«, der Friedrich, »DER darf raus?«
Die Priesterin schwenkt den telefonbuchdicken Stapel. Dabei rutscht ihr die Kapuze vom Kopf, die Sensenmannkapuze, »ICH habe das nicht zu entscheiden, ICH wasche, schon seit zweitausend Jahren meine Hände in blutiger Unschuld, glaubt ihr, ich schenke IRGENDWEM Unsterblichkeit?«
Und zu dem Rollstuhlmann (mir): »Wir werden den Antrag prüfen, es kann aber dauern, wie das eben so ist bei einer Behörde, besonders einer Behörde wie der unseren, die ja über den Tod aller, die diesen verdienen oder zumindest per Gesetz verdient haben und ergo also zum Tode verurteilt sind, von Rechts wegen entscheiden muss. Das ist keine leichte Sache, meine Herren, diese Robe, die Ihnen wie eine Priesterrobe erscheint, ist, wenn man mal genau hinschaut, eine Gerichtsrobe, und das Lithurgische betreibe ich nur im Nebenerwerb, denn glauben Sie mal nicht, man würde gut verdienen, wenn man Leute von A (=Leben) nach B (=Tod) schickt! Recht hin, Recht her, niemand und erst recht (hahaha) kein Staat will so einen Richter bezahlen, selbst wenn der nicht der unterste aller Richter, der Scharfrichter ist, nur dieser verdient übrigens noch weniger, doch andererseits: ich bin eine Frau, und allein deswegen, weil ich als Frau das Richteramt bekleide, verdiene ich also doch so wenig wie einer dieser unehrlichen Kollegen, die kein Wirt aufnehmen würde, denen kein Priester ein christliches Begräbnis zugesteht, sie werden am Ende vom Abdecker verscharrt. Doch oft ist so einer selbst zugleich der Abdecker, also liegen seine sterblichen Reste noch lange herum, so lange, bis ein Nachfolger gefunden ist; im besten Fall der Sohn (die arme Frau, die so einen hatte heiraten müssen), der Sohn, der dann, wenn er endlich volljährig ist, den schon mumifizierten Vater mitsamt aller inzwischen angefallenen milzbrandverseuchten Tierkadaver in einer Grube außerhalb der Stadt verscharren darf.
Andererseits ... Hast du Geld?«
»Was hat das mit meinem Antrag zu tun? Oder mit dem Recht? Das ist Willkür, Behördenwillkür!«
»Außerdem muss ich putzen gehen ...«, sagt die Richterin.
»Mir ist schlecht ...«, sagt der Friedrich. Es scheint zu Ende zu gehen.
»Friedrich!«, sage ich und nehme seine Hand, »Friedrich, keiner spielt die Stratocaster so wie du, bitte spiel noch einmal, ein letztes Mal!«
»Ja, bitte!«, die Putzfrau (Richterin, Priesterin), »spiel für uns!«
»Allein es fehlt ...«, Friedrich torkelt ein paar Schritte zurück, »die Stratocaster ...«
Die Amtsfrau holt aus ihrer Schreibtischschublade ein kleines Kofferradio heraus und schaltet es ein. Auf Mittelwelle findet sie einen Heavy-Metall-Sender. Judas Priest.
Friedrich, der alles andere als DAS spielt, schließt die Augen, lauscht dem irgendwie musikalisch rauschenden Kratzen, senkt den Kopf und ergreift mit dem Händen seine UNSICHTBARE.
Der Friedrich rockt. Dark und Death, black and heavy.

Kommentar der Richterin: »I love Rock'n Roll, yeah! Yeah Yeah Yeah!!! Zappadackatschackatacka ... Bang ... Boom ... Bang ... Yippi Yippi Yeah Yeah« (beginnt einen ekstatischen Tanz)