Die zärtlichen Hände des Henkers

Henkerhand

Die Institution der Hinrichtung ist längst ihrer archaischen Vergangenheit entwachsen. Man begnügt sich nicht mehr mit Fallbeil, Tod und weg. Man sieht das jetzt ganzheitlicher. Die individuelle Betreuung orientiert sich zum Beispiel an modernen psychologischen Erkenntnissen. Es geht heutzutage darum, dass der Delinquent teilhat an dem Prozess - aktiv, er ist ja der Mittelpunkt, der, um den es geht. Auch das ganze Drumherum, die Vorbereitung, die Wahl der persönlichen Hinrichtungsmethode, das wird vorher kommuniziert. Du bist von Anfang an dabei, das ist der eigentlich wesentliche Teil des Vollzugs. Und dazu gehören auch regelmäßige Treffen mit dem Henker. Mit dem persönlichen Henker. Eben mit dem, der ...

Mein Henker. Dünne Stelzen tragen einen Rumpf wie eine Säule oder einen Balken. Obenauf klebt ein Gesicht, so falsch, als wäre der Kopf versehentlich unter das eigene Fallbeil geraten und hastig wieder angeklebt worden. Aus der Nahtstelle zum Rumpf quillt eine Speckwulst wie Silikon heraus. Dieses Gesicht ist immer nach oben gerichtet und kaum fähig, einem Delinquenten in die Augen zu schauen. Wenn er es versucht, dann muss er sich vorbeugen, einen steifen Diener machen, um so von unten herauf den Blickkontakt herzustellen. Man sieht dann eine teigige Fläche mit wenigen, unscheinbaren Pickeln zwischen den winzigen Knopfaugen und dem hoch gedrückten Nasenstummel. Ein Kinn gibt es nicht, nur eine Linie von links nach rechts als Begrenzung des Unterkiefers, und parallel darüber ein dünner, blutleerer Strich, der sich ständig zu einem Schnörkel zusammenzieht und dabei unentwegt seufzt.

So stand er vor mir und beugte sich über den Tisch, wollte diesen aber offensichtlich nicht berühren. Stattdessen hingen die strickdünnen Ärmchen an den Seiten herunter und schienen von den Gewichten zweier tellergroßer Pranken noch in die Länge gezogen zu werden. Diese groben Hände schlugen mit jedem Seufzer vor das Möbel, prallten davon ab, tatschten aneinander und baumelten wie seine Delinquenten am Strang. Um nicht vornüber zu fallen, drückte er sein rechtes Knie von unten in den Bauch und stützte den Fuß stramm auf den linken Oberschenkel, so dass die ganze Konstruktion nur von seinem zitternden Standbein gehalten wurde.

Nachdem wir ganz geschäftsmäßig die organisatorischen Fragen meines Vollzugs geklärt hatten, blieb er einfach stehen, mit unbeteiligtem Gesicht, nur der Schnörkelmund seufzte still vor sich hin. Ich bot ihm meinen Stuhl an, stand dafür auf und ließ ihn hineinplumpsen, wobei er die Spannung wie ein geschwächtes Pferd aus seinen Beinen ließ.

Auch sitzend konnte er mich nicht ansehen, denn er nahm sein Gesicht wie ein rohes Schnitzel zwischen die Wurstfinger, so dass es ganz zerknautschte und die kleinen Augen verschwanden. Nach einer Weile begann er zu sprechen, wobei die Hände selbst die Worte durch Öffnen und Schließen des Mundlochs zu formen schienen:

"Jeden Tag begleite ich einen Lebenden in den Tod. Dabei  habe ich ein Gewissen, das ist nicht größer als andere Gewissen. Doch jede Hinrichtung ist ein wie ein Stein, der sich auf dieses Gewissen legt. Täglich ein Stein auf dem anderen, und mein Gewissen ist bereits so schwer, dass es mit mir im Boden versinken könnte."

Er erzählte mir von seiner Arbeit. Ich hockte mich gegenüber auf einen umgedrehten, von der Putzfrau vergessenen Plastikeimer. Zur Erlösung seines gequälten Gesichts hatte ich ihm meine Hände gereicht, die er dankbar knetete. Dieses Hände! Immer schienen sie im Weg zu sein, zu groß, zu ungeschickt, zu tollpatschig. Dabei waren diese unförmigen Pranken überraschend weich und umschlossen meine Finger so zärtlich, als lägen sie in den Daunenkissen meiner Pritsche. Es war ja nicht die Bedienung der tödlichen Maschinen, die seine Hände zu dieser Größe gezwungen hatte, nein, sie waren nur darum so geworden, weil sie selten ein dankbares Opfer fanden. Meist musste der Henker die Delinquenten holen, sie von den Gittern reißen, sie zerren, tragen und auf dem Bock befestigen - gegen das ganze Strampeln, Schreien und Winden. Nicht selten geschah es dann, dass diese Hände den Kandidaten versehentlich zu Tode drückten bevor die eigentliche Prozedur begann. Solche tragischen Unfälle verdoppelten dann seine ohnehin schwere Last. Einmal hatten die Hände vergessen, die Lederriemen um die Gelenke eines Kandidaten zu schließen, so dass der, nachdem sein Kopf in der Schale lag, wieder aufgestanden war, auf die Füße gesprungen, wobei aus dem Loch zwischen den Schultern die roten Tränen liefen. Er war zielstrebig zu dem Henker gegangen, und der hatte ihn umarmt und gehalten, hatte dieses Weinen ertragen, das ohne Zwischenstück direkt aus dem Herzen kam.

Ich frage mich, wie einer, der selbst nie etwas getan hat, die Last aller fremden Taten auf sich nehmen kann? Denn springt nicht mit jedem Stein, der sein Gewissen beschwert, die Tat selbst auf ihn über? Trägt dieser armen Mann nicht alle unsere Taten wie ein Heiland am Kreuz?

Ich stand auf, ging um den Tisch herum und nahm ihn in den Arm, versuchte ihn ein wenig zu trösten für sein unermessliches Opfer. Ich versprach, mich ganz seinen fürsorglichen Händen hinzugeben und in ihnen einzuschlafen wie ein Kind.

>>> Kommentar der Putzfrau:

Was grinst der heute so blöde? Der soll die Finger von mir lassen und den Eimer zurückgeben. Kerl! <<<